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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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Innere des Schuppens frei.
    Mitten in dem kleinen Raum, umgeben von Fässern und Regalen voller Tonkrüge der verschiedendsten Größen und Arten, lag ein großer, mit einem Tuch abgedeckter Gegenstand auf einer behelfsmäßigen Pritsche, die man aus einem Brett und zwei Fässern gebaut hatte.
    Richard schluckte. Er hatte diese Form oft genug gesehen, um zu wissen, dass sich unter den unordentlichen Falten des Tuches ein menschlicher Körper befand. »Eine Leiche?«, fragte er.
    Arnulf nickte nur. Er stand da, als blicke er auf einen Altar, die Hände vor dem Leib gefaltet und den Kopf leicht gesenkt. Richard konnte an seinem Hals eine einzelne Ader klopfen sehen, und in ihm keimte der Verdacht, dass sich unter diesem Tuch jemand befand, der seinem Freund nahegestanden haben musste.
    »Wer ist sie?«, murmelte er.
    Arnulf warf ihm einen Seitenblick zu. »Ihr Name ist ... war Dagmar.« Er entflocht umständlich die Finger, dann ließ er die Gelenke knacken, bevor er sich entschließen konnte, das Leichentuch zu berühren. Mit einem weiteren tiefen Durchatmen faltete er das Tuch so, dass Kopf und ein Teil des Oberkörpers der Leiche sichtbar wurden.
    Richard musste sich beherrschen, um nicht durch die Zähne zu pfeifen. Die Leiche hatte keine Augen mehr. Dunkel und verkrustet von Blut und getrocknetem Schleim starrten die leeren Höhlen ihm entgegen. Er brauchte einen Moment, um sich wieder zu fangen, doch dann registrierte er weitere Einzelheiten. Den zierlichen Körper der Toten, ihre Haare, die zu einer kunstvollen Frisur hochgesteckt worden waren. Ein enges Mieder umschloss eine schmale Taille und einen kleinen Busen, der mit einer ganzen Kaskade von Sommersprossen bedeckt war. Auch das Gesicht schien voller Sommersprossen zu sein, aber das konnte Richard unter dem Blut nur schwer erkennen.
    Er holte Luft. Ein schwerer, metallischer Geruch legte sich auf seine Zunge, und als Arnulf das Tuch jetzt gänzlich fortzog, wusste Richard, woher er kam.
    In der Bauchdecke der Toten klaffte eine tiefe dunkelrote Wunde. Blut hatte sich über ihren gesamten Rock ergossen und ihn inschwärzlichen Falten erstarren lassen. Richard glaubte, in der Wunde das hellere Rosa einer Darmschlinge leuchten zu sehen.
    Mit prüfendem Blick tastete er die Leiche ab. Dann wies er auf die Bauchwunde. »Sieht aus wie eine Dolchwunde.«
    »Ach nee?« Arnulf bemühte sich sichtlich, keine Erregung zu zeigen, aber es gelang ihm nicht. Richard konnte die Trauer in seinen Augen sehen, die er empfand.
    »Tut mir leid!«, murmelte er.
    Arnulf nickte. Er war blass geworden.
    »Sie stand dir nahe, oder?«, fragte Richard.
    »Sie war eine Hure.«
    »Schon klar.« Richard wusste, dass ungefähr eine Handvoll Frauen für Arnulf auf die Straße gingen. Er missbilligte diese Tätigkeit seines Freundes, aber er hatte bereits vor langer Zeit gelernt, sie hinzunehmen.
    »Ich mochte sie.« Arnulf wurde sich bewusst, dass er das Leichentuch noch immer in den Händen hielt. Mit einem geschickten Schwung warf er es wieder über Dagmars Leib, so dass nur noch ihr Kopf zu sehen war.
    Gerne hätte Richard das Gesicht mit den ausgestochenen Augen ebenfalls bedeckt, doch er unterdrückte den Wunsch, Arnulf darum zu bitten.
    »Wie kommt sie hierher?« Es war die erste Frage, die ihm einfiel. »Ich meine, sie wurde doch nicht hier in dieser Kammer ermordet.«
    Arnulf schüttelte den Kopf. »Ein Nachtwächter fand sie in einem Hinterhof. Wegen der Engelmorde vor ein paar Monaten entschied man, sie ins Predigerkloster zu bringen.«
    Richard dachte an Silberschläger und das starre Entsetzen, mit dem der Bürgermeister auf den Fund der Leiche im Sebaldusgrab reagiert hatte. »Sie wollen wohl vermeiden, dass es zu ähnlichen Ausschreitungen kommt wie im Sommer.«
    »Die Morde damals hatten nicht das Geringste mit Dagmar zu tun«, widersprach Arnulf.
    Richard legte die Spitzen von Daumen und Zeigefinger auf den Nasenrücken und massierte ihn. »Es gibt unterschiedliche Engelschöre«, sagte er – langsam, weil er nachdenken musste, während ersprach. »Die Seraphim, die als die Vielgeflügelten gelten. Nach ihnen folgen die Cherubim.« Er richtete den Blick auf Arnulf. »Und die gelten als diejenigen, die Gottes Herrlichkeit schauen. Ihre Körper sind übersät mit ...«
    »... Augen«, ergänzte Arnulf dumpf.
    Richard nickte. »Ich kann verstehen, dass man zu vermeiden sucht, dass die Menschen einen Zusammenhang konstruieren. Aber das war eigentlich nicht meine Frage. Ich

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