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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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sich langsam auf, und wie es ihre Gewohnheit war, lauschte sie dabei auf das gleichmäßige Atmen von Dagmar. Erst als die Tauben in ihrem Käfig für einen Augenblick ruhig blieben und die Stille über Maria zusammenschlug, fiel es ihr wieder ein.
    Dagmar war nicht mehr da.
    Die Trauer überfiel Maria mit solcher Wucht, dass ihr der Atem wegblieb. Sie saß auf ihrem Bett, und sie hatte nicht einmal die Kraft, den Kopf zu heben. Irgendwann jedoch verging der scharfe Schmerz, wandelte sich zu einem dumpfen Brennen in ihrer Brust, das sich anfühlte wie ein Loch, das ihr ins Herz gerissen worden war.
    Plötzlich wurde Maria bewusst, dass sie bisher noch kein einziges Gebet für Dagmars Seelenheil gesprochen hatte. Dagmar war ein guter Mensch gewesen, aber wie würde Gott über sie urteilen, über die Profession, der sie nachgegangen war, über ihre Taten und Gedanken?
    Maria schwang die Füße aus dem Bett.
    Wie viele Jahre im Fegefeuer hatte Dagmar wohl vor sich?
    Maria wusste es nicht, aber sie wusste, dass sie etwas tun konnte, damit es weniger wurden. Nachdem sie ein kurzes Morgengebet gesprochen hatte, zwängte sie ihre Hand unter die Matratze, wo sie einen kleinen Geldbeutel aufbewahrte. Sie öffnete ihn, kramte darin herum und entnahm ihm einige Münzen, die sie in ihre Rocktasche steckte. Dabei achtete sie sorgsam darauf, dass sie die Seite wählte, an der das Futter nicht kaputt war. Auf keinen Fall wollte sie die mühsam angesparten Münzen verlieren.
    Sie zog ihre langen Wollstrümpfe an, schob Mimi unter das Strumpfband. Schließlich warf sie sich ihr Kleid über und schlang den Schal um den Hals. Dann schlüpfte sie in ihre Schuhe und verließ die Wohnung, ohne den Tauben unter ihrem Tuch noch einmal einen Blick zu schenken.
    Kurz darauf stand sie in knöcheltiefem Schnee vor dem Portal einer kleinen Kirche. Hier ging sie manchmal zur Messe, wenn ihr Gewissen sie laut genug dazu anhielt. Doch heute war ihr nicht danach, die ewig gleichen Gesichter zu sehen. Ihr war nicht nach der alten Witwe mit ihrem missgünstig verkniffenen Mund, die Maria jedesmal die Pest an den Hals wünschte, wenn sie sie sah. Und ihr war auch nicht nach dem Priester, der die Messe mit gelangweilter Stimme und ewig verstopfter Nase so monoton las, dass einem zum Gähnen war.
    Maria warf einen letzten Blick auf das schlichte Portal der Kirche, dann wandte sie sich ab. Heute war ihr nach etwas Größerem, nacheiner Messe mit Gesang vielleicht. Außerdem war da noch das Geld in ihrer Tasche, mit dem sie plante, einen Ablassbrief für Dagmar zu kaufen, um ihr die Zeit im Fegefeuer zu verkürzen.
    Ein Ablasshändler, das wusste sie, stand in der Frauenkirche am Großen Markt, und genau die war jetzt ihr Ziel. Maria ging mit weit ausgreifenden Schritten, bis sie den Marktplatz erreichte. Vor einigen hundert Jahren, das hatten ihr die frommen Frauen einmal erzählt, war Nürnberg noch klein gewesen, geteilt in das Burgviertel und in das Kaufmannsviertel auf der anderen Seite der Pegnitz. Irgendwann jedoch waren diese beiden Teile so weit zusammengewachsen, dass man sie zu einer Stadt vereinigte, indem man die Stadtmauern, die sie umgaben, durchbrach und miteinander verband. Dadurch war plötzlich das Judenviertel, das sich vorher am Rande des Burgviertels befunden hatte, mitten ins Zentrum der neuen Stadtanlage gerückt, und die Nürnberger hatten die Juden von dem ihnen angestammten Platz vertrieben.
    Maria erinnerte sich noch daran, wie sie als Kind die Stirn gerunzelt hatte, als man ihr diese Geschichte erzählte. Und sie erinnerte sich auch noch daran, wie sehr es sie gewundert hatte, dass es niemand für böse hielt, das man Menschen einfach verjagte, weil man ihre Häuser und Grundstücke haben wollte. Genau das hatte sie auch laut gesagt. Und danach eine Strafpredigt erhalten, in der davon die Rede war, dass die Juden den Herrn Jesus Christus umgebracht hatten und es deshalb recht war, ihnen jedes Leid der Welt zuzufügen. An die Tracht Prügel, die der Strafpredigt gefolgt war, um sie für ihren vorlauten Mund zu bestrafen, erinnerte Maria sich am besten von allem.
    Diese Gedanken gingen ihr durch den Kopf, während sie vor der hoch aufragenden Fassade der Frauenkirche stehenblieb und ihren Blick schweifen ließ. Die Sonne schien und malte Schatten um die Füße der Sandsteinfiguren und der unzähligen winzigen Türmchen, die die Fassade krönten.
    Hinter Maria war der Markt in vollem Gange. Standinhaber schrien ihre Angebote in

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