Cherubim
wieder einmal zu Hetzerei gegen die Juden, aber bisher hatte er noch niemanden über die Zinsen der Geldverleiher wettern hören. Hier tat sich ein gefährlicher Abgrund auf, das wusste er, denn Nürnberg wäre nicht die erste Stadt, deren Bürger die Juden aus ihren Mauern vertrieben, um sich ihrer Schulden zu entledigen.
»Idioten!« Naserümpfend blickte Arnulf die Menschen an und spie dann auf den gefrorenen Boden.
Eine Bürgersfrau wandte sich missbilligend zu ihm um. »Ihr wisst wohl noch nicht, was passiert ist?«, fragte sie.
Arnulf zog die Augenbrauen zusammen, doch anders als viele andere ließ sie sich davon nicht beeindrucken.
»Sie haben das Grab des heiligen Sebald geschändet!« Herausfordernd reckte die Frau das Kinn vor. »Was sagt Ihr nun?«
Richard wollte etwas erwidern, aber er war zu verwirrt, um es tatsächlich zu tun.
»Sie haben eine halb verweste Leiche in das Grab getan!«, fuhr die Frau voller Empörung fort.
»Wer, sie ?«, hakte Arnulf nach.
»Na, das verflixte Judenpack!« Die Frau wies nach vorn, wo der Prediger noch immer dabei war, über die Juden herzuziehen. »Und sie machen jetzt auch schon gemeinsame Sache mit den zauberischen Ketzersekten!«
»Zauberische Ketzer?« Arnulf blickte die Frau höhnisch an, doch sie ließ sich davon nicht beirren. Sie nestelte etwas aus den Falten ihres Rockes und hielt es dem Nachtraben vor die Nase.
Mit erstauntem Gesichtsausdruck griff er danach.
Es war ein unordentlich zusammengeknülltes Stück Papier. AlsArnulf es glattstrich, sah Richard, dass es mit engen Buchstaben in leuchtend roter Farbe bedruckt worden war. Arnulfs Blicke glitten darüber, dann gab er es an Richard weiter. »Hier!«
Richard überflog den Text, der wirkte, wie irgendeinem Buch entnommen. »... was endlich von denjenigen Hexen zu halten sei«, las er, »welche bisweilen solche männlichen Glieder in namhafter Menge, zwanzig bis dreißig auf einmal, in ein Vogelnest oder einen Schrank einschließen, wo sie sich wie lebende Glieder bewegen, Körner und Futter nehmen, wie es von Vielen gesehen ist und allgemein erzählt wird ...« Er unterbrach die Lektüre und schaute auf. »Was für ein Schwachsinn! Glaubt Ihr etwa wirklich an diesen Mist?«
Trotzig schob die Frau die Unterlippe vor und grapschte Richard das Blatt aus den Händen. Während sie es, sorgfältiger diesmal, zusammenfaltete, sagte sie kühl: »Diese Zeilen wurden von einem studierten Mann geschrieben, der noch dazu Predigermönch ist. Wer seid Ihr, dass Ihr seine Worte anzweifeln dürft?« Sie legte lauernd den Kopf schief. »Vielleicht gehört Ihr gar selbst zu dieser Ketzersekte?«
Fassungslos über so viel Beschränktheit starrte Richard Arnulf an.
Der zuckte nur die Achseln. »Idioten!«, murmelte er ein zweites Mal.
Niklas, der Wirt der Krummen Diele, hatte alle Fenster des Gasthauses weit geöffnet, um die kalte, klare Morgenluft hereinzulassen und auf diese Weise den Mief und den Dunst der vergangenen Nacht zu vertreiben.
In der klirrenden Kälte, die die Räume füllte, wischte eine seiner Töchter den Boden der Schankstube, und es schien ihr nicht das Geringste auszumachen, dass sie dabei immer wieder beide Arme in den Wassereimer stecken musste. Obwohl ihre Hände bis weit über die Gelenke krebsrot waren, summte sie vergnügt vor sich hin, während sie ihre Arbeit verrichtete.
Richard und Arnulf betraten das Wirtshaus durch die Vordertür, die Niklas eigens für sie offengelassen hatte. Als Richard den feuchtglänzenden Fußboden sah, zögerte er.
»Kommt ruhig rein!«, sagte die Wirtstochter. »Spätestens in drei Stunden trampeln mir sowieso alle wieder hier durch.«
Richard stampfte ein paarmal mit beiden Füßen auf, um wenigstens den losen Schnee von ihnen abzustreifen, dann durchquerte er, gefolgt von Arnulf, die frisch geputzte Gaststube. Richard öffnete die Hintertür, und gemeinsam gingen sie zu dem Schuppen im Hof.
Niklas hatte bereits alles vorbereitet. Die beiden Schuppenfenster waren weit geöffnet, so dass Tageslicht hereinfallen konnte. Zusätzlich standen auf den oberen Regalbrettern einige Kerzen bereit, von denen eine bereits brannte.
Dagmar lag auf der behelfsmäßigen Pritsche. Arnulf hatte sie noch am Abend zuvor all ihrer Kleider entledigt, aber ihre Blößen mit dem Leichentuch bedeckt, so dass ihr Körper – wenigstens im Moment – keinerlei Anstoß bot. Wären die ausgestochenen Augen nicht gewesen, hätte sie ausgesehen, als schlafe sie. Das Laken war
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