Cherubim
ein, als sie ihn in eine Seitengasse bugsierten. Der Mann ließ den Blick nicht von Maria, bis er um die Ecke verschwunden war.
»Dreckspack!«, zischte die Frau neben ihr noch einmal. Dann ruckte sie so heftig an Maria, dass der Schmerz ihr bis hinauf ins Schultergelenk fuhr.
Mirjam?
»Papa?« In ihrer Kirchenbank richtete Maria sich auf. Vorn begann der Chor wieder zu singen, und die Bilder in ihrem Kopf verblassten.
Völlig durcheinander, schlang Maria ihre Arme um den Oberkörper. Wieder wollte sie vornübersinken, doch sie beherrschte sich. Die Frau in der Bank vor ihr hatte sich jetzt vollständig zu ihr umgedreht und musterte sie mit so harten, missbilligenden Blicken, dass ein Loch zum Verkriechen nicht mehr ausreichte. Am liebsten hätte sie sich einfach in Luft aufgelöst.
»Irre haben in einer heiligen Messe nichts zu suchen!« Obwohl die Frau flüsterte, dröhnte jedes einzelne Wort in Marias Ohren.
»Ich ...« Maria ächzte. »Ich bin nicht verrückt!«, brachte sie hervor.
Aber stimmte das auch? Woher kamen all diese Stimmen?
Vielleicht war sie ja doch verrückt.
Besessen!
Das war es! Sie war besessen von einem Dämon, der sie quälte, der in verschiedenen Stimmen mit ihr redete und sie auf diese Weise in den Wahnsinn treiben wollte.
Taumelnd kam Maria auf die Beine. Vorn setzte der Chor zu seinem letzten Lied an, aber Maria bekam plötzlich keine Luft mehr in der Kirche. Sie warf sich herum und rannte.
Vorbei an dem Tisch mit den gesiegelten Ablassbriefen, von denen sie einen für Dagmar hatte kaufen wollen. Durch das Portal der Kirche, hinaus in den sonnigen Vormittag rannte sie, und es kümmerte sie nicht, dass die Menschen, an denen sie vorbeikam, die Köpfe über sie schüttelten.
11. Kapitel
Ein lautes Poltern riss Katharina noch vor Sonnenaufgang aus einem Traum, und sie fuhr erschrocken in die Höhe. Dann jedoch folgte dem Poltern ein langgezogenes, ächzendes Knirschen, und sie sank zurück in ihr Kissen. Ein dicker Ast oder etwas Ähnliches war gegen einen der Holzpfeiler des Henkersstegs gestoßen, hatte sich daran verkeilt, schließlich der Strömung der Pegnitz nachgegeben und war weitergetrieben. Diese Art von Geräuschen war im Henkershaus des öfteren zu hören, und dennoch konnte Katharina sich nicht daran gewöhnen.
Sie schloss die Augen und versuchte, wieder einzuschlafen, denn es war noch stockfinster draußen. Durch ihre Gedanken geisterte die Erinnerung an einen Traum, den sie kurz vor dem Erwachen geträumt hatte.
In diesem Traum hatte sie auf einem breiten Bett gelegen und gegen dessen stoffbezogenen Himmel geschaut. Ihr Hinterkopf ruhte auf Egberts Bauch, und während sie ihm erzählte, was ihr den vergangenen Tag über passiert war, lag er ganz ruhig und hörte zu. Sein Atem ging gleichmäßig, so dass ihr Kopf sich in stetem Rhythmus hob und senkte, und sie fühlte sich sicher und geborgen wie ein kleines Kind.
»... und dann hat der alte Hoger mich doch tatsächlich aus dem Haus geworfen«, beendete sie ihre Erzählung und stieß ein leises Kichern aus.
»Hm«, brummte Egbert.
Katharina drehte sich auf die Seite, um ihn ansehen zu können. Und in diesem Moment spürte sie, dass etwas nicht stimmte. Vor ihren Augen hätten rotblonde Haare sein müssen, doch alles, was sie sah, war blasse, nackte Haut, hinter der Egberts Gesicht verborgen lag wie hinter einem Hügel, den Katharina nicht zu überblicken vermochte.
»Egbert?«, flüsterte sie.
»Nein«, bekam sie zur Antwort, und da stemmte sie sich auf die Ellenbogen.
Die Augen, die sie ansahen, waren nicht blau, sondern von einem tiefen Braun. Katharina schnappte nach Luft.
»Richard!«, ächzte sie.
Und war an dieser Stelle aufgewacht.
Jetzt ertappte sie sich dabei, dass ein Lächeln über ihre Züge glitt, und erstaunt über sich selbst, tastete sie danach, als könne sie es nicht glauben. Der Traum hatte sie mit einem Gefühl von Zufriedenheit zurückgelassen. Katharina lauschte in sich hinein, um zu ergründen, was sie bei dem Gedanken empfand, nicht mehr von ihrem verstorbenen Mann zu träumen, sondern von einem anderen.
Mechthilds Worte fielen ihr ein.
Vielleicht ist jetzt die Zeit, einige Menschen hinter uns zu lassen und nach vorn zu sehen.
War es das, was ihre Träume ihr zu sagen versuchten?
Sie setzte sich auf, stützte sich mit beiden Händen hinter sich ab und warf den Kopf in den Nacken. Ihre langen blonden Haare fielen ihr über den Rücken und kitzelten sie angenehm im Ausschnitt
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