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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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senkte die Klinge auf die Haut an Dagmars Unterarm. Der Widerstand war größer, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Er drückte stärker, und das Metall glitt durch das Fleisch in die Tiefe.
    »Was machst du?« Arnulfs Stimme klang gepresst. Er starrte bewegungslos auf den blutleeren, hellroten Schnitt, der sich unter Richards Skalpell öffnete, zeigte jedoch keinerlei Anzeichen von Übelkeit oder Entsetzen.
    »Ich muss mich erst wieder daran gewöhnen«, erklärte Richard.
    »Gut. Mach schnell!«
    Richard zog die Klinge durch Dagmars Fleisch bis auf den Knochen ihrer Elle und von dort aus in Richtung Handgelenk. Die Adern zeichneten sich dunkelblau-violett gegen das hellere Fleischab. Richard legte die größte von ihnen frei, und dabei gewann er rasch seine alte Sicherheit im Umgang mit der Klinge zurück.
    Für den Moment hatten seine Finger aufgehört zu zittern. Sie arbeiteten sich präzise und gewohnheitsmäßig durch Fettschichten, Muskelgewebe und Knorpel.
    »Es sieht alles völlig gewöhnlich a...« Mitten im Wort brach Richard ab, weil ihm etwas auffiel.
    »Was ist?« Arnulf beugte sich vor. Seine Stirn lag in tiefen Falten, und Richard stellte sich vor, wie er sich mühte, seinen revoltierenden Magen unter Kontrolle zu halten.
    »Warte mal.« Richard änderte die Richtung der Klinge, so dass sie nun quer zum Handgelenk schnitt. Mit wenigen Bewegungen hatte er das Gelenk so weit freigelegt, dass er es sich genauer ansehen konnte. Er legte das Skalpell fort, griff nach Dagmars Hand und Unterarm und bog beides so, dass der Schnitt weit aufklaffte.
    Arnulf stöhnte, sagte aber nichts.
    »Das ist merkwürdig«, murmelte Richard. Er trat ein Stück zur Seite, so dass Arnulf einen besseren Blick auf Dagmars Hand hatte. »Hier. Dieses seltsame Zeug.«
    Die Fugen zwischen den Hand- und dem Unterarmknochen war angefüllt mit einer pechschwarzen Substanz. Sie sah aus wie fettiger Ruß, der sich zwischen die weißen Knochen gesetzt hatte. Behutsam ließ Richard Dagmars Hand los und tippte mit der Spitze seines kleinen Fingers in diese Substanz. Obwohl sie pulverig aussah, besaß sie doch eine zähe Konsistenz, die Richard sich nicht erklären konnte.
    »Was ist das?«, fragte Arnulf.
    Richard zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich habe so was noch niemals zuvor gesehen.« Er hob den Blick zu den Kerzen auf den Regalen und überlegte. »War Dagmar irgendwie krank?«
    »Nicht, dass ich wüsste.« Arnulf griff gedankenverloren nach einem Zipfel des Leichentuches und drehte ihn in den Händen zu einem dünnen Strang.
    Richard legte Dagmars Hand zurück auf ihre Brust. »Wenn du bereit bist«, sagte er, »können wir mit dem Eigentlichen anfangen.«
    Arnulf starrte auf das Laken zwischen seinen Fingern. Er machte Anstalten, es mit einem Ruck von Dagmars Leib zu ziehen, aber dann überlegte er es sich anders. Er fasste es sorgsam an den beiden oberen Ecken und faltete es so zusammen, dass er den Busen, den Brustkorb und auch den Bauch enthüllte. Den Rest des Körpers, die Füße und Beine und auch die Scham, ließ er bedeckt.
    Richard musste schlucken angesichts des Ausdrucks tiefempfundener Zuneigung, der sich auf Arnulfs Gesicht zeigte. Noch nie, dachte er, hatte er den Freund so gesehen.
    Richard tauschte das große Skalpell gegen ein schmaleres aus. Mit der Linken tastete er über Dagmars Bauch, wo die Dolchwunde ihn wie ein breiter, obszöner Mund angrinste. Das milchige Weiß des unteren Rippenbogens schimmerte aus dem Rot der Verletzung, und auch ein paar Darmschlingen waren zu sehen.
    Ein letztes Mal vergewisserte sich Richard, dass Arnulf in der Lage war, diese Angelegenheit hier durchzustehen. Dann seufzte er. Und setzte das Skalpell auf die schneeweiße Haut von Dagmars Bauchdecke.
    Maria erwachte vom Scharren der Tauben unter ihrem Tuch. Das Erste, was sie tat, war, auf die unheimlichen Stimmen zu lauschen, die sie am Abend zuvor gequält hatten. Doch sie schienen verstummt, wenigstens für den Moment, und so gelang es Maria, die Anspannung, die sie sofort nach dem Erwachen ergriffen hatte, ein wenig zu lockern.
    Die Ereignisse des gestrigen Abends verschwammen in einem undeutlichen Nebel. Sie erinnerte sich noch daran, dass sie aus der Krummen Diele geflohen und zurück in ihre Wohnung gekehrt war. Was sie danach getan hatte – sie wusste es nicht mehr genau. Die Erinnerung daran vermischte sich mit dunklen, wirren Träumen, die sie geplagt hatten, nachdem sie eingeschlafen war.
    Jetzt setzte sie

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