Cherubim
die kalte Luft hinaus, Maria hörte eine Frau mit einem Mann streiten. Offenbar ging es um den Preis für ein geschlachtetes Huhn, denn Maria verstand Worte wie »zäher Vogel«und »völlig unangemessen«. Der leichte Wind wehte den Geruch von Gebratenem heran, und Maria bedauerte es, dass sich der Duft von frischem Brot nicht daruntermischte. Seit der Rat angeordnet hatte, Brot nur noch in eigens dafür vorgesehenen Brothäusern zu verkaufen, fehlte dieser angenehme Duft auf dem Markt.
Während sie all das bedachte, machte Maria ein paar unbewusste Schritte auf das Kirchenportal zu, und dabei stolperte sie. Geschickt fing sie sich ab und richtete den Blick zu Boden, um zu sehen, woran ihr Fuß gestoßen war. Es war ein Pflasterstein, der ein Stück weiter hochstand als die anderen rings herum.
Bei seinem Anblick blieb Maria die Luft weg.
Buckeliges Pflaster. Die Zwischenräume trocken und rissig vom Staub. Und das dunkelrote Rinnsal, das sich um die Steine ergoss wie ein Strom um eine Klippe ...
Plötzlich wusste Maria, dass es hier gewesen war, wo sie als kleines Kind den erschlagenen Mann gesehen hatte. Ihr Kopf ruckte hoch. Die Holzbohlen der Buden – sie waren noch die gleichen wie in Marias Erinnerung.
Der harte Griff der kalten Hand, die sie festhielt, ließ ihre Finger schmerzen, und auf einmal waren da Tränen. In breitem Strom rannen sie über ihr Gesicht, hinunter bis zum Kiefer und von dort aus weiter, den Hals hinab und in ihr Gewand, wo sie kalt und unangenehm kitzelig von dem groben Stoff aufgesogen wurden ...
»Steht doch nicht im Weg rum!« Eine dickliche Frau in unordentlichen Kleidern aus dunkler Wolle kam angerannt, drängte sich unsanft an Maria vorbei und langte nach dem Griff der Kirchentür. Eilig zog sie sie auf und verschwand im Inneren des Gotteshauses. Maria konnte hören, dass drinnen ein Chor sang. Sie lauschte auf die lateinischen Worte, doch der Gesang wurde abgeschnitten, als die Kirchentür zurück ins Schloss fiel. Gleichzeitig kehrten die Erinnerungen zurück.
»Hör auf zu heulen, Gör!«, sagte die Stimme, die zu der kalten Hand gehörte. »Er war nur ein dreckiger Jude!« Und ein harter Ruck an ihrem Arm maßregelte sie und ließ ihr Schultergelenk schmerzen.
Maria legte eine Hand auf den Mund, um bei dieser Erinnerungnicht aufzuschreien. Eine sanfte Berührung an der Schulter ließ sie zusammenzucken und herumfahren.
Ein schmales Gesicht schwebte vor ihr. Undeutlich nur sah sie eine schwarze Kutte und eine sorgfältig rasierte Tonsur, als ihr Gegenüber den Kopf neigte. »Was ist Euch?«, fragte der Mönch. »Braucht Ihr Beistand?«
Maria wollte nicken, doch dann schüttelte sie den Kopf. Es kostete Mühe, sich zusammenzureißen. »Nein, Vater. Ich danke Euch!«
»Geht hinein.« Der Mönch wies auf die Kirchentür. »Die Messe hat längst begonnen!«
Er wartete, bis Maria ihm versichert hatte, dass sie das tun würde, dann setzte er seinen Weg fort. Das Geräusch, das seine Ledersandalen auf dem buckeligen Pflaster machten, ließ Maria aufwimmern.
Weitere Erinnerungen lauerten unter der Oberfläche ihres Bewusstseins, das konnte sie spüren, wie sie manchmal bereits des Morgens spürte, ob es an einem Tag regnen würde oder nicht. Doch sie war nicht bereit für neue Erinnerungen. Das Bild des erschlagenen Mannes und der Schmerz der Wunde, den die kalte Stimme ihrer Seele geschlagen hatte, erfüllten sie so vollständig, dass sie das Gefühl hatte, nicht noch mehr Angst und Leid und Entsetzen aushalten zu können. Nicht jetzt!
Hastig schlang sie sich ihren Schal um den Hinterkopf, damit die Haare bedeckt waren, wie es sich in einer Kirche ziemte. Dann langte sie nach dem Griff des Portals, zog es auf und betrat die Kirche.
In der reich ausgemalten Vorhalle, die sie durchqueren musste, stand ein Tisch, auf dem Dutzende von kleinen und großen Papieren aufgeschichtet lagen. Hinter ihm lehnte der Ablasshändler mit verschränkten Armen an einer Säule. Er war ein freundlich aussehender Mann, der ebenfalls Mönchsgewänder trug, allerdings keine schwarzen wie der Mann draußen vor der Kirche, sondern die strahlendweißen des Dominikanerordens. Mit einem herzlichen Lächeln auf den Lippen nickte er Maria zu.
Sie schenkte den eng beschriebenen und bedruckten Seiten und den vielen verschiedenen Siegeln daran nur einen kurzen Blick. Zunächst musste sie an dieser Messe teilnehmen. Für alles andere war später Zeit.
So leise sie es vermochte, schlüpfte sie in eine
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