Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
Vom Netzwerk:
der hinteren Kirchenbänke, machte einen hastigen Knicks und bekreuzigte sich, bevor sie sich hinsetzte. Dann lauschte sie dem Chor aus sieben Augustinermönchen. Der getragene, ehrfurchtgebietende Gesang der Männer berührte sie tief in ihrem Innersten und brachte den Aufruhr der Gefühle in ihr zum Schweigen. Mit einem Seufzen entspannte Maria sich ein wenig.
    »Schön, oder?« Die Frau, die kurz vor ihr die Kirche betreten hatte, saß eine Reihe vor Maria. Jetzt beugte sie sich nach hinten, ließ aber den Blick nicht von den Mönchen ab. »Ich bin ganz aufgeregt«, wisperte sie weiter. Sie deutete auf einen jungen Mann, der ein paar Reihen vor ihnen saß und aufmerksam den Worten des Priesters lauschte, als dieser jetzt damit begann, aus der Bibel vorzulesen. »Das ist mein Neffe. Sein Vater ist mein Bruder, ein Webermeister. Er hat Johannes auf Wanderschaft geschickt, weil er in der Schule gar zu aufsässig wurde. Ich freue mich so, dass er mich besuchen kommt, könnt Ihr das glauben?«
    »Ja«, gab Maria so leise wie möglich zurück. Mehrere der Umsitzenden schauten sich bereits ärgerlich um, um zu erkunden, wer die Andacht mit seinem Geflüster störte. Ein paar Blicke blieben dabei auf Maria und ihrer für eine Kirche eigentlich zu freizügigen Kleidung hängen. Das Wort Hübschlerin stand etlichen Gaffern in den Blick geschrieben.
    Maria zog den Schal enger um Kopf und Schultern und sank in sich zusammen. Am liebsten hätte sie sich in einem Mauseloch verkrochen.
    Nun wandte die Frau in der vorderen Bank sich zu ihr um. Als sie sah, wem sie eben ihre halbe Familiengeschichte ausgeplaudert hatte, wurden ihre Augen kugelrund. Ihr Mund klappte auf, aber gleich darauf hatte sie sich wieder in der Gewalt. Zischend atmete sie aus, schoss einen letzten Blick auf Maria ab und wandte sich dann demonstrativ wieder nach vorn, um Maria keines einzigen Blickes mehr zu würdigen.
    Maria unterdrückte die Scham und auch den aufkeimenden Trotz. Blöde Kuh!, dachte sie und zwang sich, der Frau nicht die Zunge herauszustrecken.
    Der Priester hatte seine Lesung beendet, und vorn begann der Chor wieder zu singen. Maria richtete ihre gesamte Aufmerksamkeit auf die wundervolle Melodie.
    Und in diesem Moment überfiel es sie mit bisher ungeahnter Wucht.
    Dreckiges Judenluder!, keifte es in ihrem Kopf. Wie kannst du dich erdreisten ...
    Und die Worte wurden überlagert von einer anderen, einer tiefen, dröhnenden Stimme, die ausrief: Höre Israel, der Herr, unser Gott, ist ein Herr. Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deiner ganzen Seele und deinem ganzen Gemüt.
    Maria schnappte nach Luft vor Entsetzen.
    Schau, Prinzessin, fügte die sanfte, väterliche Stimme hinzu, das hier ist der Platz, auf dem früher einmal unsere Synagoge stand. Sie wurde zerstört, als man viele von uns aus der Stadt jagte und sogar tötete.
    In ihrer Kirchenbank sitzend, umklammerte Maria den Kopf mit den Armen. Keuchend beugte sie sich vornüber. »Warum, Papa?«, wimmerte sie. »Warum töten sie uns?«
    Wieder richteten sich etliche Blicke auf sie. Maria beachtete sie nicht, und auch das zornige Gemurmel der anderen Gottesdienstbesucher drang nur gedämpft zu ihr durch.
    Die Stimmen in ihrem Kopf übertönten alles andere.
    Es ist viele, viele Jahre her, Prinzessin. Wir brauchen keine Angst zu haben. Heutzutage schützt uns der Stadtrat vor solchen ...
    Diesmal fuhr die kreischende Stimme dazwischen.
    Judenpack! , höhnte sie. Dreckiges Gesindel! Verbrennen sollte man euch alle!
    Und wieder flammten Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Wieder war sie ein kleines Kind. Wieder wurde ihre Hand in einer anderen so sehr gequetscht, dass es weh tat. Doch diesmal war da kein erschlagener Mann und auch kein rotes Rinnsal. Die Frau, die Maria festhielt, zeigte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf eine Gruppe von Männern in langen schwarzen Mänteln. Maria sah die Schläfenlocken rechts und links der Männergesichter und das kleine Käppchen, das, wie sie aus irgendeinem Grund wusste, Kippa hieß. Undsie sah das Gesicht. Das Gesicht, das noch in der Vision zuvor dem Erschlagenen auf dem Marktplatzpflaster gehört hatte.
    In dieser Vision lebte er noch.
    Erschrocken starrte er Maria an, fassungslos gar und so voller Traurigkeit, dass seine Blicke auf ihrem Gesicht brannten wie Feuer. Der Mann öffnete den Mund. »Mirjam!«, rief er. Er wollte noch etwas sagen, aber seine Begleiter nahmen ihn bei den Schultern und zogen ihn fort. Sanft redeten sie auf ihn

Weitere Kostenlose Bücher