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Cherubim

Cherubim

Titel: Cherubim Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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hatten.
    Katharina musste bis weit nach Mittag warten, bevor Richard endlich um die Ecke in die Tuchgasse einbog.
    Ein Fuhrwerk, das von zwei mächtigen schwarzen Ochsen gezogen wurde und das ganz offensichtlich auf dem Weg zu einem der Händlerhäuser am Großen Markt war, rumpelte vorüber, und als es sich entfernt hatte, stand Richard plötzlich in der Mitte der Straße.Bevor Katharina, die sich an die gegenüberliegende Hauswand gelehnt hatte, einen Schritt auf ihn zumachen konnte, hatte er sie bereits entdeckt.
    »Kat...« Er unterbrach sich und blinzelte rasch.
    Katharina entging nicht, dass er fast ihren Vornamen ausgesprochen hätte.
    Sie lächelte. »Richard«, sagte sie. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn wir unser unterbrochenes Gespräch jetzt fortsetzen?«
    Ein paar Fältchen erschienen rings um seine Augen und gaben ihm ein weicheres Aussehen. »Natürlich nicht.«
    Katharina konnte spüren, wie seine Blicke über ihr Gesicht huschten, dann über ihre gesamte Gestalt. Richard ging die wenigen Stufen zu seiner Haustür hoch, öffnete sie und ließ Katharina zuerst eintreten.
    Drinnen umfing sie die gleiche Atmosphäre, die sie noch so gut in Erinnerung hatte. Sie dachte an ihre Krankenbesuche hier zurück. Es waren seltsame Begegnungen gewesen. Die Erinnerung an die gemeinsam erlebten Schrecken hatte zwischen ihnen gestanden und verhindert, dass aus der Sympathie, die sie füreinander empfanden, mehr wurde. Jedesmal, wenn Katharina in Richards Augen gesehen hatte, musste sie an ihren Bruder Matthias denken, an die Art, wie er gestorben war, und die Trauer um ihn mischte sich mit der Sehnsucht, bei Richard zu sein, ihn zu berühren, mit ihm zu reden. Mit ihm zu lachen.
    Es war das Lachen, das sie gemeinsam nicht hinbekommen hatten, weil sie beide zu tief verletzt worden waren. Aus diesem Grund, und aus Angst vor ihrer eigenen melancholia , hatte Katharina den Kontakt schließlich abgebrochen.
    Als sie jetzt den warmen Ausdruck von Zuneigung in Richards Gesicht entdeckte, fragte sie sich, ob ihre Entscheidung damals vielleicht falsch gewesen war. Er freute sich, sie zu sehen, das war deutlich. Und er schien befangen. Er räusperte sich.
    Sie blieb im Flur stehen und wartete darauf, dass er sie in sein Kontor bat, so wie er es früher getan hatte. Als er keine Anstalten machte, ging sie von selbst einen Schritt auf die Tür zu.
    »Oh!« Er schien aus einer Art Trance zu erwachen. »Ich ... entschuldigt!«Mit einem verlegenen Lächeln stieß er die Tür auf und bat Katharina herein.
    Auch hier sah alles noch genauso aus, wie sie es in Erinnerung hatte: der Sekretär aus rotbraunem Holz, der zwischen den beiden Fenstern stand, die Bücher hinter den gläsernen Türen des Möbelaufsatzes, die Landschaftsbilder an den Wänden.
    Neben der Tür hing ein Bild, das Katharina noch nicht kannte. Es zeigte ein seltsames, fabelartiges Tier mit vier Füßen, einem dicken Panzer und einem langen, schlangenartigen Hals, der ein deutliches Muster aus Punkten und unregelmäßigen Quadraten aufwies. Katharina deutete darauf. »Das ist neu«, sagte sie. »Hübsch!«
    Richard nickte lächelnd. »Ich habe es von Meister Wolgemuth, einem guten Bekannten von Hartmann Schedel. Es stammt von einem sehr begabten jungen Künstler namens Albrecht Dürer, der eine Zeitlang bei Meister Wolgemuth gelernt hat. Es soll ein Tier von jenseits des Mittelmeeres sein, ein Rhinozeros. Wenn Ihr mich fragt: Meister Dürer hat da offenbar ein paar Alpträume aufs Papier gebannt!«
    Katharina schmunzelte. Sie hätte es nicht so drastisch ausgedrückt, aber Sterner hatte recht. »Ich wollte höflich sein. Ehrlich gesagt, gefallen mir die Landschaftsbilder besser.« Sie deutete auf einige mit pudrigen Farben gemalte Studien der Nürnberger Umgebung.
    »Mir auch. Aber wie Ihr habe auch ich eine Vorliebe für groteske Zeichnungen.« Richard trat zu seinem Schreibpult und nahm von einem Stoß Papiere das oberste herunter. Nachdem er einen stirnrunzelnden Blick daraufgeworfen hatte, schob er es unter den Stapel, als wolle er es vor Katharinas Blicken verbergen.
    Sofort erwachte in ihr die Neugier, was es enthalten mochte. »Eine weitere anatomische Skizze?«, fragte sie, bevor sie sich auf die Zunge beißen konnte. Richards vielsagende Worte von eben legten diesen Schluss nahe. Sie wusste, das er genau wie sie an die Mappe mit Zeichnungen gedacht hatte, die er ihr kurz vor ihrem Rückzug geschenkt hatte.
    Ganz kurz presste Richard die Lippen zusammen. »Ja«,

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