Chiara Fontana - Das Möbiusband (German Edition)
und fixierte den leeren Beutel, als erwartete sie von ihm die Lösung des Rätsels. Im Zeitraffer rekapitulierte sie jedes Vorkommnis seit ihrer überstürzten Abreise. Kein Mensch war ihr nahegekommen. Kein Kavalier hatte ihr das Gepäcksstück beim Aussteigen aus der Hand genommen. Niemand hatte sie auf dem Bahnsteig angerempelt. Im Taxi hatte sie die Tasche auf ihrem Schoß gehalten und sein Gewicht gefühlt. Lag es in der Macht des A-Gravs, nach Belieben zu verschwinden?
„Parello“, wiederholte der Anführer erneut. „Was für ein Zufall.“
Langsam näherte er sich dem Sofa und blieb vor Elena stehen. In schlechtem Italienisch sagte er grob: „Du kleine Hure wirst uns alles erzählen. Du wirst es gerne tun, glaube mir. Damian ist ein Künstler mit dem Messer. Kapiert sie das?“ fragte er Chiara höhnisch. Die wandte sich ihrer Freundin zu.
Elenas Starre schien sich gelöst zu haben. Sie sah den Bärtigen an, während er redete. Den Inhalt seiner Rede verstand sie tatsächlich kaum, wohl aber den Tonfall. Und der gefiel ihr nicht. Weil sie barbusig und mit Tränenspuren im Gesicht vor ihm saß, hielt er sie für ein wehrloses Opfer, das er quälen und demütigen konnte. Sie hatte in diesem Augenblick vor nichts und niemandem Angst. Deshalb ließ sie ihren rechten Fuß nach oben schnellen, nach oben schnalzen wie eine Peitsche. Sie traf punktgenau und extrem hart mit dem Rist. Der Schwarzbärtige klappte zusammen. Er kippte zur Seite, beide Hände in den Schritt gepresst, und schnappte nach Luft. Seine Pistole schlitterte über einen Streifen des Parketts, der nicht mit Teppichen bedeckt war und lag plötzlich vor Chiaras Füßen. Blitzschnell bückte sie sich und griff nach der Waffe, als ein lautes, scharfes „Stopp“ sie innehalten ließ. Die Stimme des Blonden. Sie drehte den Kopf. Er hielt Elenas dichten Haarschopf gepackt. Seine Messerspitze tanzte rasend wie die Nadel einer Nähmaschine über ihren zurückgebogenen Hals und hinterließ eine Spur feiner, roter Perlen, die sich zum Muster eines Kolliers formten.
Vanetti fühlte unterdessen den harten Unterarm des anderen Gangsters an seinem Kehlkopf. Der Pistolenlauf war fest gegen seine Schläfe gepresst. Er zielte auf die blondgelockte Italienerin – wie hieß sie? Chiara – die nach der Waffe gegriffen hatte. Sie war mutig. Beide waren unglaublich mutig. Er hätte nie gewagt, was sie getan hatten. Fehlte ihnen jede Phantasie? Wussten sie nicht, wohin das führen musste? Oder machten sie es am Ende richtig?
Chiara legte die Waffe langsam zurück. Die Kappe des Schwarzbarts lag auf dem Boden und enthüllte ein handtellergroßes Glätzchen, das seiner martialischen Erscheinung einen Dämpfer versetzte. Stöhnend richtete er sich auf, bückte sich nochmals nach der Waffe, dann ein weiteres Mal nach seiner Kopfbedeckung und stand nun leicht nach vorn gebeugt vor den Frauen. Die Arroganz war aus seinen Gesichtszügen verschwunden, jetzt wurden sie von irrer Wut und grenzenloser Rachsucht beherrscht.
„Lass’ sie noch einen letzten Blick auf ihre hübschen Titten werfen“, fauchte er in Richtung des Blonden. „Dann kannst du ihr einen Knebel ins Maul stecken und mit ihnen spielen.“
„Dazu müssen wir sie fesseln.“ Die Vorfreude ließ die Stimme des Sadisten beben. Mit der Spitze seines Messers, die sich millimetertief in das weiche Fleisch zwischen Elenas Hals und Kinn bohrte, dirigierte er sie vom Sofa zu einem Sessel. Bis sie dort angekommen waren, hatte sich die Klinge rot gefärbt. Der Boss hielt – diesmal in sicherem Abstand – seine Waffe auf ihren Kopf gerichtet, während der Blonde ein Tischtuch zerschnitt und Elenas Füße und Hände an den Sessel knotete. Er zog ein zerknülltes Taschentuch aus seiner Hose und stopfte es in ihren Mund. Ein besticktes Deckchen band er zur Fixierung des Knebels um ihren Kopf. Chiara sah, dass die Augen ihrer Freundin sich vor Ekel und Angst weiteten. Der Blonde kicherte leise, als er sein Messer vor ihrem Gesicht hin und her schwenkte. Dann senkte er es zwischen ihre Brüste und ließ die Klinge wie unentschlossen von einer Brustwarze zur anderen wandern.
Dies war der Moment, in dem Chiara beschloss, so lange und so laut zu schreien, bis dieses Haus, in dem ja noch andere Menschen wohnen mussten, vom Keller bis zum Dach alarmiert war. Die Klinge hatte sich entschieden und legte sich auf Elenas rechte Brustwarze. Chiara holte tief Luft. Doch sie schrie nicht.
59___
Ein Geräusch,
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