Chiffren im Schnee
Sie solche Fragen ohne mit der Wimper zu zucken beantworten können , sagt mir, dass Sie in dieser Sache sehr viel tiefer drinstecken, als mir lieb ist. Sie brauchen mir nicht mehr zu sagen – wahrscheinlich hat man Sie zur Geheimhaltung verpflichtet. Ich hoffe nur, diese Engländer passen auf Sie auf, nachdem Sie sie schon in diese Geschichte hineingezogen haben.»
Sie blickte ihn überrascht an. Er liess ihre Hand los und zupfte mit einer leichten Grimasse an seinen Bandagen. «Wie gesagt, ich hatte viel Zeit nachzudenken. Vielleicht ist Lieutenant Wyndham nicht aus blossem Zufall in der Suite, für die sich so viele Leute interessieren? Er scheint ein Mann mit vielen Talenten zu sein, und er hatte eine geladene Waffe zur Hand, als er sie brauchte. Und vielleicht ist Lady Georgiana nicht nur eine besorgte Cousine?» Er liess von den Bandagen ab und betrachtete Anna nachdenklich. «Auf jeden Fall scheinen die beiden Interesse daran zu haben, sich mit der Gouvernante gut zu stellen, die Schlüssel für alle Zimmer hat und alle Gäste kennt. Wenn ich in einem Hotel ein paar undurchsichtigen Geschäften nachgehen möchte, könnte ich mir – ausser dem Concierge – keine bessere Verbündete vorstellen.»
«So ist es nicht …», Anna hielt inne. Wie sollte sie in wenigen Worten darlegen, warum sie sich auf so etwas Verrücktes eingelassen hatte? Sie konnte es nicht einmal sich selbst richtig erklären, oder vielmehr wollte sie es nicht.
«Schon gut, wenn Sie ihm vertrauen, dann tue ich das auch. Aber wenn er Ihnen wehtut, werde ich mich mit ihm prügeln. In meinem jetzigen Zustand wäre das fast ein ausgeglichener Kampf – zumindest hoffe ich das für mich.»
«Was Sie für einen Unsinn reden, Henning. Vielleicht sollten Sie doch besser noch einen Tag im Bett bleiben.»
Er schüttelte den Kopf. «Ich lasse mich nicht so einfach ablenken. Im Ernst: Das ist eine gefährliche Sache, passen Sie gut auf sich auf, und wenn Sie Hilfe brauchen, dann können Sie auf mich zählen. Ich bin vielleicht im Moment etwas angeknackst, aber das ist wie bei Tassen: Die mit einem Sprung sind die zähesten.»
Anna musste gegen ihren Willen lachen. Doch dann wurde sie wieder ernst. «Doktor Reber hat die Geschichte mit dem Treppensturz bestimmt nicht geglaubt.»
«Natürlich nicht. Herr Ganz hat ihm erklärt, ich hätte ein unerfreuliches Zusammentreffen mit ein paar Nachtbuben gehabt und dass es sich nicht lohne, deshalb den Wachtmeister zu bemühen. Der Doktor wurde daraufhin recht ungehalten und sagte, er hoffe sehr, dass das Splendid sein ‹Nachtbuben-Problem› bald in den Griff bekommt.»
«Sind Sie ganz sicher, dass Sie nicht noch einen Tag ausruhen wollen?» Sie fand den Gedanken unerträglich, dass er diese Männer heute in der Bar würde bedienen müssen. Der Patron setzte die Offiziere ganz gewiss nicht vor die Tür. Und wenn Henning das verlangen würde, so müsste wohl er den Hut nehmen. Das wussten sie beide.
Henning ahnte, was ihr durch den Kopf ging. «Ich lasse mich von niemandem von meiner Pflicht abhalten – die Genugtuung kriegen sie nicht», war seine knappe Antwort.
Anna war es müde, sich mit den verschiedenen Spielarten männlichen Stolzes auseinanderzusetzen – sie erwiderte nichts.
«Im Übrigen», fuhr er fort, «wird mir beim Gedanken, dass Charles zwei Abende hintereinander in der Bar schaltet und waltet, wie er will, ganz blümerant. Darf ich nun um meine Weste bitten?»
Er stand auf, und sie half ihm schweigend beim Ankleiden, während er sich nochmals im Spiegel begutachtete. «Da ist noch etwas. Die Männer, die Jost vom Dachboden holten, haben erzählt, dass man an ihm Enzianschnaps riechen konnte. Ich bin darauf in die Bar und habe meinen Bestand geprüft. Ich halte ja nicht viel von dem Gesöff, aber manchmal verlangt es ein Gast, der sich den Magen verdorben hat. Zu was anderem ist es nicht gut. Ich habe immer eine Flasche vorrätig, aber genau die fehlt jetzt. Ein seltsamer Zufall, nicht wahr?»
Die Maxime des Lieutenants schien sich wieder einmal zu bewahrheiten. Anna antworte knapp: «Wohl kaum.»
«Ich habe mir überlegt, wann ich die Flasche zum letzten Mal gesehen habe. Das war vor zwei Tagen. Weil es ja eine grosse Feier geben sollte, habe ich am Abend, bevor es losging, noch kurz Inventur gemacht. Da war der Schnaps noch da.»
«Dann wurde die Flasche während der Feier gestohlen?» Wie Henning achtete Anna darauf, den Namen des Oberleutnants nicht mehr in den Mund zu
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