Chiffren im Schnee
ausdenken müssen, das einer genaueren Überprüfung nicht standhalten würde.
Als sie später zum Morgenessen hinunterging, warf sie nochmals einen Blick auf die Remise. Es hatte endlich aufgehört zu schneien, und nun sah es so aus, als ob es ein schöner Tag werden würde. Anna konnte am westlichen Horizont noch einen Stern schimmern sehen.
Im Personal-Speisesaal hatte die gedrückte Stimmung des Vortages einer rebellischen Gereiztheit Platz gemacht. Josts Beerdigung war für den nächsten Tag angesetzt. Das war Silvester, und das Splendid bereitete sich für den grossen Neujahrsball vor. Der Patron hatte Herrn Ganz mitgeteilt, dass nicht mehr als ein Dutzend Angestellter an die Beerdigung durften.
Es kam zu heftigen Worten, und Herr Ganz brauchte all sein diplomatisches Können, um eine empörte Delegation ins Direktions-Bureau zu verhindern.
Er regelte schliesslich, dass nur Hausknechte, Portiers und Kellner, die Jost seit seinem Dienstantritt gekannt hatten, zur Beerdigung durften. Anna, die Lady Georgiana ja auf deren Wunsch hin begleitete, zählte er nicht mit. Nach einigem Hin und Her erhielten auch noch Helen und Edith die Erlaubnis mitzugehen, obwohl das Dutzend damit bereits überschritten war. Herr Ganz und Anna versprachen allen anderen einen halben freien Tag innerhalb der nächsten zwei Wochen, damit sie Zeit hatten, von Jost Abschied zu nehmen.
Nachdem sich die Gemüter wieder etwas beruhigt hatten, erkundigte sich Anna bei Charles nach Hennings Befinden.
«Es geht ihm gut», sagte der etwas verlegen. «Ich habe ihm Frühstück gebracht, aber er meint, dass er heute schon wieder aufstehen und arbeiten will.»
«Ich werde ihn mir auch noch ansehen. Vielleicht sollte er noch einen Tag das Bett hüten.»
Er warf ihr einen seltsamen Blick zu, sagte aber nichts weiter. Anna ging leicht beunruhigt nach oben. Als sie an der Kammertür klopfte, klang Hennings «Herein» allerdings ganz munter.
Er war gerade dabei, sich in dem kleinen Spiegel, der neben dem Fenster hing, die Fliege zu binden. Als Anna sein Gesicht im Glas sah, erstarrte sie. Seine Lippe war aufgeplatzt, das linke Jochbein und die Wange schimmerten in allen Farben des Regenbogens, das Auge war leicht zugeschwollen.
«Nicht erschrecken, Stauffacherin, alles halb so schlimm.» Er drehte sich langsam zu ihr um. Sie blickte ihn ungläubig an, er nahm sie am Arm und führte sie zu seinem Bett, das noch nicht gemacht war.
«Sie setzen sich besser hin, bevor Sie mir noch in Ohnmacht fallen. Das ist nun ganz bestimmt nicht der Eindruck, den ich auf die Damenwelt machen möchte.»
«Henning! Das stammt nicht von einem Sturz die Treppe hinunter – nie und nimmer!»
«Schon gut, schon gut. Das ist die offizielle Version für die Gäste, die’s glauben mögen. Sagen wir einfach, einigen Herren hat mein Gesicht nicht gefallen, und sie haben versucht, ein paar Korrekturen anzubringen.»
«Einigen Herren», wiederholte Anna langsam und beobachtete, wie er sich sehr vorsichtig bewegte.
«Das kann unsereinem schon einmal passieren.» Er streckte die Hand nach seiner Weste aus, die an einem Haken von der Decke hing. Mit einem leisen Stöhnen liess er den Arm wieder sinken. Anna stand auf und holte die Weste für ihn.
«Das sieht aus, als hätten Sie sich eine Rippe gebrochen. Was hat denn der Doktor gemeint?»
«Die Rippe ist nur geprellt. Er hat mich dermassen einbandagiert, dass ich mich kaum noch bewegen kann.»
Er wollte nach der Weste greifen, doch Anna trat einen Schritt zurück und presste das Kleidungsstück an sich. «Was sagte Herr Doktor Reber denn noch? Dürfen Sie heute überhaupt schon aufstehen?»
«Er hat mir Bettruhe verordnet. Aber wenn mir nicht schlecht wird und ich kein Fieber bekomme, könnte ich nach einem oder zwei Tagen wieder arbeiten.»
Er wollte erneut nach seiner Weste greifen, doch sie war noch nicht fertig mit ihm. «Und wer waren nun diese so genannten ‹Herren›? Und wurde die Polizei verständigt?»
Er schüttelte den Kopf. «Lassen Sie’s gut sein, Stauffacherin. Mit der Polizei werden Sie hier nicht weit kommen.»
«Aber das war mehr als nur ein Spass, Sie sind ernsthaft verletzt!» Sie wusste, dass solche Dinge vorkamen – dass jemand wie Henning für manche Männer ein rotes Tuch war, eine Verirrung der Natur, die man entsprechend behandeln musste; und alle anderen schauten gleichgültig weg.
«Sie verstehen nicht, das waren nicht die üblichen Spassvögel. Dieses Mal ging es um etwas
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