Chiffren im Schnee
wo ich bleibe.»
Als sie wieder alleine waren, sagte der Lieutenant zu Anna: «Cecil Seymour ist einer jener Schachspieler, von denen ich gesprochen habe. Er und seinesgleichen haben dafür gesorgt, dass ich hier bin. Sie werden also morgen den Mann kennenlernen, der ganz wesentlich zu unserer gegenwärtigen Lage beigetragen hat.»
«Wird er Lady Georgiana und Ihnen denn eine Hilfe sein?» Sie war sich sicher, die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen.
Wie erwartet schüttelte er den Kopf. «Ich fürchte eher das Gegenteil.»
Auf einmal bemerkte Anna, dass er den Fauteuil so gedreht hatte, dass man die Remise gut beobachten konnte, wenn man sich hineinsetzte. Eine Wolldecke lag gefaltet über der Rückenlehne.
Er war ihrem Blick gefolgt. «Ich dachte, jemand sollte die Remise im Auge behalten, nur für den Fall, dass unsere feuerliebenden Freunde zurückkommen. Solange es so schneit, dürfte das eher nicht der Fall sein. Aber man kann ja nie wissen. Vielleicht nutzen sie die Remise auch einfach für ihre Treffen; wir hatten eben erst Neumond, dass muss ihnen gut passen.»
«Ich hoffe, Sie werden vorsichtig sein, sollte sich Ihre Nachtwache lohnen.»
«Das werde ich. Keine Sorge. Gute Nacht, Miss Staufer.»
Im obersten Stock hatten sich ein paar Mädchen bei der Tür zum Dachboden zusammengeschart und tuschelten aufgeregt. Als Anna näher kam, stoben sie auseinander. Doch im Moment hatte Anna anderes zu tun, als Klatsch und Gerede zu unterbinden.
Sie machte sich auf den Weg in den Ostflügel. Auf ihr leises Klopfen an Hennings Tür erhielt sie keine Antwort. Vorsichtig drückte sie die Tür auf.
Henning lag im Bett und schlief tief und fest. Vom Gang her fiel ein Lichtstrahl auf das leere Tablett, das auf einem Stuhl neben dem Bett stand. Einigermassen beruhigt schloss Anna die Tür wieder.
Gegen zehn Uhr prüfte sie, wie es ihre Pflicht war, dass alle Mädchen im Bett waren. Dann kehrte sie in ihre Kammer zurück, hüllte sich in ihren Morgenmantel, sodass zumindest im Halbdunkel niemand bemerken würde, dass sie noch ganz bekleidet war. So legte sie sich aufs Bett, um etwas zu schlafen. Gegen Mitternacht erwachte sie wieder, griff nach der blauen Mappe und schlich sich leise ins Treppenhaus.
Sie setzte sich beim ersten Treppenabsatz auf die Fensterbank, von wo aus sie die Remise gut im Blick hatte.
Im spärlichen Licht, das in der Nacht die Gänge und Treppenhäuser beleuchtete, konnte man nicht stundenlang lesen. Aber immer, wenn der Schlaf Anna zu übermannen drohte, holte sie wieder ein Blatt aus der Mappe hervor, um sich wach zu halten.
Es waren Liebesgedichte, das hatte Anna nicht anders erwartet. Der Lieutenant hatte bei manchen Übersetzungen Erläuterungen hinzugefügt, in denen er die Bildsprache und manchmal auch den Hintergrund des Gedichtes erläuterte. Langsam entstand so das Bild eines prächtigen Hofes, an dem Gedichte mehr als nur reiner Zeitvertreib gewesen sein mussten. Zwischen den Zeilen las Anna, dass ein Gedicht und eine passende Replik zum Ritual gehörten, bevor Liebende sich des Nachts im Gemach der Dame treffen konnten. Und auch danach gehörte der Austausch von Gedichten zur Beziehung, bis zu deren – wie es schien – meist bitterem Ende. Die hochmütige Dame hatte die Liebe stets voll ausgekostet, davon sprachen Zeilen voller Zärtlichkeit, Sehnsucht, aber auch Schmerz, Zorn und Trauer.
Zwischendurch verfiel Anna auf der harten Fensterbank in Halbschlaf, durch den jene Worte aus der Ferne geisterten, begleitet vom Gesicht des Mannes, der sie ihr zugetragen hatte. Dann wieder fuhr sie aus dem Schlaf hoch, beobachtete die Remise, die still und ruhig im Licht der Strassenlaterne lag. Es schneite immer noch. Während sie in die fallenden Flocken starrte und versuchte, wach zu bleiben, musste sie daran denken, dass sie in dieser seltsamen Nachtwache Gesellschaft hatte und wie dumm es war, dass sie nicht einfach bei ihm sitzen konnte.
Männerstolz
«Man verlobe sich nicht im Liebesrausch, sondern bei nüchternem Verstande. Jedem Rausch folgt eine Enttäuschung und ein Katzenjammer; auch in der Liebe bleiben die unangenehmen Folgen selten aus.»
Das kleine Anstandsbuch – J. v. Eltz, 1903
Gegen den frühen Morgen verliess Anna ihren Posten, bevor sie von jenem Personal, das früh aus den Federn musste, überrascht werden konnte. Zwar kam es immer wieder vor, dass die Gouvernante mitten in der Nacht unterwegs war, aber sie wollte sich nicht irgendein Märchen
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