Chiffren im Schnee
Lieutenant seine Kräfte überschätzt. Selbstverständlich darf Jost nicht das Gefühl haben, wir würden ihn mit der Verantwortung allein lassen. Ich werde mit ihm sprechen. Und natürlich muss der Herr Direktor Bescheid wissen. Vielleicht sollten wir auch Doktor Reber um seine Meinung fragen, obwohl er natürlich nichts tun kann, solange der Gentleman nicht nach ihm verlangt. Sehen Sie, das ist die Art von Schwierigkeiten, die ich vorausgesehen habe, wenn man einen Rekonvaleszenten ins Haus nimmt. Er wäre in einem Sanatorium besser aufgehoben.»
Beim Nachtessen teilte Herr Ganz Anna mit, dass er mit Jost gesprochen habe. Es klang allerdings nicht so, als ob er sehr erfolgreich gewesen wäre. Er hatte Jost nur mit viel Müh und Not ausreden können, ein Feldbett in das Lesezimmer zu stellen und dort zu nächtigen.
«Ich habe auch kurz mit Lieutenant Wyndham geredet. Er sieht nicht gut aus, will aber vom Doktor nichts wissen. Aber er teilt unsere Bedenken, dass Jost sich zu viel auflädt. Er hat ihm für morgen Nachmittag freigegeben – er musste einen regelrechten Offizierston anschlagen, bis Jost sich endlich fügte. Wer hätte gedacht, dass uns der junge Ammann einmal wegen seines Übereifers zu schaffen machen wird?»
Christian hatte endlich einen Weg gefunden, Ammann von seinen Plänen für eine Krankenwache abzulenken; er liess ihn von zu Hause erzählen. Das Abendessen blieb weitgehend unberührt, während Christian weiteren Abenteuern des Bergführers Ammann lauschte. Es war deutlich zu hören, wie stolz der Junge auf seinen Vater war und wie sehr er ihn liebte.
Christian hatte die Augen geschlossen und liess sich von den Worten wegtragen. Er mochte nicht daran denken, wie er die Nacht überstehen sollte. Aber die verrückte Idee mit dem Feldbett hatte er trotzdem abgelehnt; er musste alleine mit seinen Dämonen fertigwerden.
«Es ist schön, wenn man ein gutes Zuhause hat», meinte Ammann eben. «Ich hab’s ja nicht weit zum Vater, aber wer’s weit hat, für den ist es schon hart. Vor allem wenn dann Weihnachten kommt. Herr Ganz und Fräulein Staufer können ja nicht allen freigeben, nur weil Festtage sind.»
Das Gesicht der Gouvernante tauchte vor Christian auf; sie hatte im Park allein sein wollen, so wie er. Und sie hatte geweint. Nach dem Grund dafür konnte er Ammann wohl nicht gut fragen. Aber eine harmlose Frage öffnete manchmal die Tür für mehr.
«Hat Fräulein Staufer Familie?»
«Ja, aber ich glaube nicht, dass sie die gross vermisst.»
«Was meinen Sie damit?» Es war das erste Mal, das Christian die Etikette brach und nachfragte, wenn Ammann Persönliches aus dem Leben des Personals enthüllte. Der bemerkte den Fauxpax seines Dienstherren nicht.
«Sie hat kein schönes Zuhause. Keines, wohin man gerne zurückkehrt.»
Anscheinend war da noch mehr, doch selbst Ammann schien zu merken, dass er bereits zu viel gesagt hatte. Er griff nach dem Tablett. «Aber so genau weiss ich das auch nicht, das ist nur Gerede.»
Damit zog er sich hastig zurück, sodass das Geschirr gefährlich klapperte. Christian starrte auf das Bild mit dem friedlichen Bergdorf im Schnee. Ob sich unter einem der strohgedeckten Dächer auch Dunkles zutrug, über das man im Dorf nicht sprach? Manche Dinge blieben sich überall gleich.
Hatte die Gouvernante wegen dieser Geheimnisse geweint? Sie sah so aus, als könnte sie die Vergangenheit ziemlich gut im Zaum halten. Doch das war eine Fähigkeit, die manchmal ganz unerwartet Tribut forderte.
Zufälle
«Morphium wirkt auf freiliegende Nervenendigungen etwas reizend. Innerlich erregt es in kleinen Gaben das Gehirn zu angenehmen phantastischen Vorstellungen von kurzer Dauer, betäubt und lähmt jedoch sehr bald, wenn größere Dosen genommen werden.»
Meyers Grosses Konversations-Lexikon, 1905
Anna erwachte gegen fünf Uhr früh; sie hatte schlecht geschlafen, doch es lohnte sich jetzt nicht mehr, nochmals die Augen zu schliessen. Sie erledigte ihre Morgentoilette und holte das Notizbuch hervor. Vielleicht schaffte sie es ja endlich wieder einmal, etwas anderes als nur Arbeitslisten zu schreiben. Doch es sollte nicht sein. Sie hatte bereits eine ganze Weile auf die leeren Seiten gestarrt, als es an der Tür klopfte. Draussen stand ein atemloser Jost.
«Guten Morgen, Fräulein Staufer. Könnten Sie vielleicht in die Kleine Suite kommen? Lieutenant Wyndham möchte Sie sprechen.»
«Ich komme sofort. Aber sag bloss, du hast ihn um diese Zeit schon
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