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Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
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aufgeführt hatte. Er wollte den Bogen wohl nicht überspannen und nickte nur trotziges Einverständnis. Anna holte das Nähzeug, das sie eh nie brauchte, aus der Tasche an ihrem Gürtel und packte stattdessen das silberne Etui ein. Dann sagte sie zu Jost: «Lieutenant Wyndham braucht etwas zu essen; geh nach unten und sieh nach, ob du für ihn bereits ein Morgenessen bekommen kannst.»
    Er nickte nur und murmelte leise: «Danke, Fräulein Staufer.»
    Sie blickte ihm nach, wie er gehorsam aus der Suite trottete. Er wäre nicht so glimpflich davongekommen, hätte Lieutenant Wyndham nach dem Patron oder Herrn Ganz verlangt. Der Lieutenant hatte mehr Verständnis gezeigt, als man von einem Mann in seiner Lage erwarten durfte. Sie wollte ihm dafür danken und sich für Jost entschuldigen.
    Doch da sagte er: «Ihre Eichhörnchen haben mich gestern ganz schön ausgezankt. Sie wollten nicht vor Publikum an ihr Futter. Sie werden wohl nicht regelmässig gefüttert?»
    Die Frage war so unerwartet, dass Anna ohne gross zu überlegen antwortete. «Nein, eigentlich nicht – im Park hat es genug Tannenzapfen und anderes Futter.» Sie begriff, dass das eine Antwort war, die weiterer Erklärungen bedurfte. Doch wie sollte sie ihm irgendetwas von alledem, das sie gestern in den Park getrieben hatte, erklären?
    Christian hatte ihre verweinten Augen nicht vergessen. Tieren Futter zu bringen, wenn es einem schlecht ging, war eine Geste der Einsamkeit. Eine neue Welle des Schmerzes zog herauf. Er wünschte sich, sie würde ihn allein lassen, und schloss die Augen. Es dauerte nicht lange, aber ihm schien es eine Ewigkeit.
    Anna sah, wie er kämpfte, und ging ins Badezimmer. Als sie zurückkam, hatte sie ein nasses Handtuch dabei, schweigend fuhr sie ihm damit vorsichtig über Gesicht und Hände. Er liess sie gewähren.
    Sie legte das Handtuch zur Seite und öffnete das Fenster. Frische, kalte Luft drang in den Raum. Sie überlegte sich, ob sie wirklich das Richtige getan hatte. Als sie das Fenster wieder schliessen wollte, fragte er unvermittelt: «Riecht es nach Schnee?»
    Durch die seltsame Frage aus ihren Gedanken gerissen, wandte sie sich um. Er blickte zum Fenster. Sie schnupperte. «Ja, das tut es.»
    Er lachte leise. «Eines Tages wird mir jemand erklären müssen, wie man das erkennen kann.»
    Anna hätte gerne gewusst, wie er aussah, wenn er lachte.
    «Es riecht klar und irgendwie scharf.» Sie schloss das Fenster. «Entschuldigung, ich kann es nicht besser erklären.»
    Er hatte sich etwas aufgerichtet und betrachtete sie eingehend. «Das ist eine sehr einprägsame Umschreibung. Haben Sie vielen Dank, Miss Staufer.»
    Klappernde Geräusche aus dem Lesezimmer kündigten Josts Rückkehr an. Anna wandte sich zum Gehen. «Ich hoffe, Sie fühlen sich bald besser, Sir.»
    Zurück in ihrer Kammer holte sie ein medizinisches Nachschlagewerk für den Hausgebrauch hervor und schlug unter «Morphium» nach; wie sie erwartet hatte, war es keine sonderlich beruhigende Lektüre: «Es ist richtig, dass eine Einspritzung unter die Haut in verzweifelten Fällen Wunder wirkt und mitunter unser letztes Rettungsmittel bildet, wenn alles sonst versagt. Da uns das Morphium, wie der Alkohol, über Schmerzen und Schwäche für einige Stunden angenehm hinwegtäuscht, so greift der an Morphium Gewöhnte immer wieder nach der Spritze, bis er der Morphiumsucht ganz und gar verfällt und dann ein elendes Dasein führt. Wahnsinn oder Selbstmord ist das häufige Ende unglücklicher Morphinisten.»
    Anna verstaute das Nähzeug in einer Schublade; das Spritzbesteck behielt sie bei sich. Morphium war eine zu gefährliche Substanz, um in die Hände eines neugierigen Stubenmädchens zu gelangen, das «nur» ausprobieren wollte, ob das Schloss an der Kammertür der Gouvernante mit einer Haarnadel zu besiegen war.
    Es war höchste Zeit für ihren morgendlichen Rundgang. Im Treppenhaus wartete bereits Herr Ganz. «Guten Morgen, Fräulein Staufer. Wie ich hörte, hatten Sie eine frühe Tagwacht.»
    «Der Lieutenant hatte leider keine gute Nacht. Er wollte wissen, wie lange der Lärm im Park noch andauern wird.»
    Der Lieutenant würde ihr die Notlüge hoffentlich verzeihen, sollte er je davon erfahren. Anna war sich ziemlich sicher, er wollte nicht, dass seine wirklichen Probleme bekannt wurden.
    «Ach ja, andere Gäste haben sich auch schon beschwert. Alle fragen sie bei der Ankunft, ob man schon Eislaufen kann, aber dass das Eisfeld nicht wie Klee aus dem Boden

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