Chiffren im Schnee
aufgeweckt.»
«Natürlich nicht, aber weil es ihm gestern doch so schlecht ging, wollte ich heute früh kurz nachsehen. Ich habe mit den Küchenleuten gefrühstückt und bin dann in die Suite geschlichen, aber da war er schon wach. Ich glaube nicht, dass er überhaupt geschlafen hat. Und nun hat er auf einmal so komische Ideen.»
Anna packte das Notizbuch, schloss die Tür ab und folgte ihm über die schwach beleuchtete Hintertreppe nach unten. Die Winternacht lag noch still und dunkel über dem Park. Die Männer, die das Eisfeld präparierten, waren bereits nach Hause gegangen, um ihr Vieh zu bestellen.
Aus Jost war nichts weiter herauszubekommen, und so betrat Anna die Kleine Suite, ohne genau zu wissen, was für «komische Ideen» der Lieutenant denn nun hegte.
Es war dunkel; im Schlafzimmer brannte nur die kleine Nachttischlampe. Der Lieutenant hatte sich möglichst weit von der Lichtquelle zurückgezogen; sein Gesicht lag im Dunkeln. Anna blieb in der Tür stehen.
«Es tut mir leid, dass ich Sie so früh schon störe, Miss Staufer.»
«Wie kann ich helfen?»
«Indem Sie Ammann zur Vernunft bringen», lautete die erstaunliche Antwort.
Sie drehte sich zu Jost um, der mit trotzigem Gesichtsausdruck hinter ihr stand. Er hielt einen schmalen Metallbehälter umklammert. «Der Lieutenant wünscht, dass ich das im Badezimmer wegschütte, dabei könnte es ihm doch helfen.»
Anna streckte fordernd die Hand danach aus, und er leistete dem stummen Befehl Folge. Sie klappte den Deckel des Gefässes hoch und sah im schwachen Licht der Nachttischlampe Silber und Glas glitzern. Sie trat etwas näher und erkannte eine Spritze, ein Gerät zum Befüllen des Kolbens und eine schlanke Glasphiole. Es gab zwei Einbuchtungen für Phiolen, eine davon war leer.
«Das ist seine Medizin, sie würde helfen. Ich kann das doch nicht ins Klosett werfen», verteidigte sich Jost.
«Sei still», meinte sie nicht unfreundlich, da sie zu verstehen begann. Sie wandte sich dem Lieutenant zu. «Das ist Morphium, nicht wahr?»
Er entspannte sich etwas. «Die Ärzte sagen, es wäre ein Wunder, dass ich noch lebe und dass ich laufen kann; aber wie ein Wunder fühlt es sich nicht immer an. Im Hospital hat man mir Morphium verabreicht – mehr als genug davon. Als ich endlich begriff, was vorging, war es zu spät. Den Ärzten zufolge habe ich keine Wahl, als mit dem Morphium zu leben. Ich bin anderer Meinung …»
Im Lichtkegel der kleinen Lampe ballten sich seine Hände wieder zu Fäusten, während er tief Luft holte. «Mein Arzt hat darauf bestanden, dass ich das», er zeigte auf den Behälter, «mitnehme, für den Fall, dass es wieder schlimmer wird. Im Park war ich kurz davor nachzugeben, doch dann ist die Phiole hinuntergefallen. Ich glaube nicht an Zufälle. Das war ein Zeichen, nicht aufzugeben. Aber es ist nicht einfach durchzuhalten, wenn Erleichterung in Reichweite ist.»
Also war es die Phiole gewesen, die er bei ihrem Auftauchen hatte fallen lassen. Wäre es besser gewesen, er hätte sich die Injektion gegeben? Sie wusste es nicht.
Er fuhr fort. «Es geht nur darum, die Versuchung zu entfernen. Glauben Sie mir, wenn es unerträglich wird, dann hat der hiesige Arzt auch einen Vorrat. Er wurde von meinem Arzt informiert.»
Jost trat vor Anna. «Und was, wenn Doktor Rebers Vorrat unerwartet aufgebraucht ist? Oder wir ihn nicht erreichen können?» Anscheinend war er davon überzeugt, dass sie ihn in seiner Rebellion unterstützen würde. Er drehte sich zu seinem Dienstherrn um. «Ich kann doch darauf aufpassen!»
«Nein, Ammann, das können Sie nicht», entgegnete der Lieutenant mit einem Hauch von Ungeduld. «Beim ersten Zeichen von Schwäche meinerseits würden Sie nachgeben. Oder aber Sie verpassen mir eine Injektion im Schlaf.»
Anna hatte schon einmal einen Gast im Griff des Morphiums erlebt; es war keine Erfahrung, die sie Jost wünschte. Der schmale Behälter lag kühl in ihrer Rechten; sie sagte ruhig: «Ich werde darauf aufpassen. Dann ist es in der Nähe, wenn Sie es brauchen, aber nicht zu nahe. Ich weiss, wie gefährlich es ist, und werde gut darauf achtgeben.»
Sie wartete auf Widerspruch, die vielen Spielarten männlichen Stolzes waren ihr nur zu bekannt. Doch der Lieutenant überraschte sie ein weiteres Mal. Er schien zwar mit sich zu ringen, sagte schliesslich aber nur: «Ich danke Ihnen.»
Jost begann offenbar langsam zu dämmern, dass er sich – wenn auch mit den besten Absichten – unmöglich
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