Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Chiffren im Schnee

Chiffren im Schnee

Titel: Chiffren im Schnee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katharina Berlinger
Vom Netzwerk:
Anweisungen.
    Der Lieutenant war eben mit seinem Mittagessen fertig geworden. Er registrierte die Aufmachung seiner Cousine mit Interesse, sagte aber nichts und hörte aufmerksam zu. Als Lady Georgiana mit ihrem Bericht fertig war, meinte er: «Nun, wie es scheint, versucht die Gräfin einfach mit etwas zweifelhaften amourösen Mitteln, sich und vor allem ihrer Tochter ein gutes Leben zu sichern. Würde sie für die Ochrana arbeiten, hätte sie sich nicht so einfach überreden lassen, das Feld zu räumen.»
    «Na ja, ich bin froh, dass sie abreist.» Lady Georgiana musterte mit Bedauern die leeren Teller. «Sie hat dich ins Visier genommen und mit dem armen Jost gespielt.»
    «Sie hat nicht viele Skrupel, doch vielleicht hat ihr das Schicksal auch keine grosse Wahl gelassen. Ich vermute, sie gehört zu jenen Russen, die im Gefolge des Petersburger Blutsonntags geflohen sind. Ich habe die Berichte über die Aufstände und Massaker gelesen. Ihr Mann war möglicherweise ein reicher Gutsbesitzer, der von aufständischen Bauern getötet wurde. Oder er erregte das Missfallen der Armee und verschwand in einem Gefängnis. Glaub mir, wer dem Zarenreich den Rücken kehrt, hat dazu meistens einen guten Grund.»
    Lady Georgiana schauderte leicht. «Schon gut, schon gut – sie tut mir auch ein wenig leid. Im Tageslicht kann man sehen, dass ihr nicht mehr viel Zeit bleibt. Ihre Waffen werden bald stumpf sein.»
    Der Lieutenant quittierte diese poetische Umschreibung der Vergänglichkeit aller Schönheit mit einem skeptischen Blick auf seine schöne Cousine, sagte aber nichts dazu. Er stand auf und trat an das Fenster rechts des Sofas. Zu Anna gewandt fragte er: «Die Remise ist gleich hier, nicht wahr?»
    Er zeigte nach unten, zur Nordwestecke des Hauses. Die Remise, ein lang gezogener weiss gestrichener Holzbau, war zum Splendid passend errichtet worden. Graue Pilaster und Kapitelle verliehen ihr das Aussehen eines etwas zu streng geratenen Pavillons. Dahinter floss im Sommer ein Bach, der den Ententeich und Herrn Brehms Beete bewässerte. Nun war die ausgetrocknete Rinne zum Lagerplatz für all den Schnee geworden, der im Park und ums Splendid weggeschaufelt wurde. Wenn das Wetter wärmer wurde, konnte das Schmelzwasser im Bachbett abfliessen. Jetzt aber türmten sich die Schneemassen wie eine Palisade auf.
    «Früher hatte das Splendid auch eigene Stallungen, aber heute übernimmt ein Fuhrwerker aus dem Dorf den Kutschenbetrieb für das Hotel», erklärte Anna. «Die Kutschen und Schlitten sind aber immer noch in der Remise untergestellt. Im Winter ist es ein beliebter Platz um – nun ja, sich abends ungestört zu treffen. Man ist drinnen, und in den Schlitten hat es warme Felle und Decken.»
    «Und ich nehme an, das wissen alle im Hotel, die es wissen müssen. Ist die Remise denn nachts nicht abgesperrt?»
    «Doch, aber es gibt einen Seiteneingang, und wenn man Herrn Muff, dem Kutscher, genügend Trinkgeld gibt, so lässt er den Schlüssel auf einem der Balken unter dem Vordach liegen.»
    «Wie überaus praktisch.» Der Lieutenant blickte nachdenklich auf die verschneite Remise hinunter, dann drehte er sich zu Lady Georgiana um.
    «Die Remise muss durchsucht werden.» Schwerfällig kehrte er zu seinem Sessel zurück. «Wie ich deiner Aufmachung entnehme, bist du auch schon zu diesem Schluss gekommen. Ich glaube, Ammann hat dort etwas gehört oder gesehen, dass es nötig machte, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich vermute Letzteres. Und vielleicht finden sich davon noch Spuren.»
    «Es scheint naheliegend, dass er seinen Mördern in der Remise begegnet ist.» Lady Georgiana erhob sich und ging ebenfalls zum Fenster. «Aber wie kommst du darauf, dass sie irgendetwas Verdächtiges dort zurückgelassen haben? Oder ist das nur ein Schuss ins Dunkle?»
    «Sowohl als auch. Es wäre viel einfacher gewesen, den Selbstmord in der Remise zu inszenieren. Einen bewusstlosen Mann durch das Hotel und auf den Dachboden zu schleusen, bedurfte eines grossen Aufwands. Und es war gefährlich, man hätte sie dabei jederzeit entdecken können. Das lässt sich nur damit rechtfertigen, dass sie die Aufmerksamkeit unbedingt von der Remise ablenken wollten.»
    Lady Georgianas Gesicht hellte sich auf. «Denkst du, jemand vermutet, der Professor hätte seine Unterlagen in der Remise versteckt?»
    «Ich weiss nicht. Ich weiss nicht einmal, ob ich wirklich an die Existenz dieser Chiffre glauben mag. Vielleicht verbirgt sich in der Remise etwas anderes,

Weitere Kostenlose Bücher