Chiffren im Schnee
oder es wurde schon lange beiseitegeschafft. Das sind alles nur Hypothesen. Einer Suche bedarf es allemal.»
«Natürlich», meinte Lady Georgiana und wandte sich Anna zu. «Können wir das gleich erledigen?»
Anna gefiel das nicht, sie beobachtete Lady Georgianas Eifer mit wachsendem Unmut. Es war derselbe Eifer, den sie schon bei ihrer Verkleidung zur Lingère an den Tag gelegt hatte.
Als Lady Georgiana Annas Zögern bemerkte, fügte sie drängend hinzu: «Was ist bloss mit Ihnen, Miss Staufer? Haben Sie vielleicht Angst?»
«Nein, das denke ich nicht», liess sich der Lieutenant vernehmen, der Anna nicht aus den Augen gelassen hatte. «Es ist wohl vielmehr so, dass Miss Staufer eben begriffen hat, dass für dich die Suche nach der Chiffre wichtiger ist als die Suche nach Ammanns Mördern.»
Immerhin hatte die Lady jetzt so viel Anstand zu erröten. «Es tut mir leid, ich habe Ammann nicht vergessen. Aber das ist die erste Spur dieses verflixten Manuskriptes. Es ist ja nicht so, dass die Suche nach der Chiffre die Suche nach dem Mörder ausschliesst.»
«Es ist schon gut», sagte Anna tonlos, «Mylady hat Jost ja nur knapp zwei Tage gekannt. Und Mylady hat einen Auftrag, den sie nicht vernachlässigen darf. Ich werde natürlich helfen.»
Lady Georgiana blickte ratsuchend zu ihrem Cousin. Der schüttelte nur den Kopf. «Auch das gehört zum Spiel, Georgiana. Es ist tatsächlich so, dass von dir erwartet wird, die Suche nach der Chiffre über eine etwaige Mörderjagd zu stellen.»
Sie machte eine unwillige Bewegung, aber widersprach ihm nicht.
Er wandte sich an Anna. «Ich habe Ammann länger als nur zwei Tage gekannt, und ich bin nicht durch dieselben Loyalitäten wie Lady Georgiana gebunden – nicht mehr. Vergessen Sie das nicht. Doch es besteht die Möglichkeit, dass wir die Wahrheit nie herausfinden. Oder aber nicht genügend Beweise erbringen können für das, was wirklich vorgefallen ist. Und selbst wenn, werden die Täter vielleicht von ihrer Regierung geschützt, und wir werden für Ammann keine Gerechtigkeit erhalten.»
Lady Georgiana sah über diese Worte nicht sehr glücklich aus. Vielleicht hatte sie sogar mit dem Gedanken gespielt, sich Annas Unterstützung mit Halbwahrheiten zu sichern und ihr wider besseres Wissen zu versprechen, dass Jost und seinem Vater auf jeden Fall Gerechtigkeit widerfahren würde. Um so mehr schätzte Anna die Offenheit des Lieutenants.
«Danke, dass Sie so ehrlich sind und mich nicht anlügen, damit ich weiterhin meine Rolle spiele und Ihnen helfe.»
Er nickte nur. «Georgiana, wenn du dich zum Ausgehen bereit machst, denk daran, dass dein Sportkostüm nicht alles ist, was du brauchen wirst.»
«Natürlich, ich werde mich gleich darum kümmern.» Als sich Lady Georgiana an Anna wandte, spielten ihre Finger mit der goldfarbenen Tassel der Vorhangkordel. «Was glauben Sie, wann Sie Zeit haben, um mit mir die Remise zu durchsuchen, Fräulein Staufer?»
«Wir können uns in einer Viertelstunde bei der Remise treffen.» Damit überliess Anna die beiden sich selbst. Sie brachte Lady Georgianas Kostümierung in ihr Zimmer zurück und rüstete sich zum Ausgehen. Sie zog ihren Mantel und warme Handschuhe an, auf einen Hut verzichtete sie. Sie fragte sich, ob sie an diesem Tag auch noch einmal ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen würde. Doch da alle immer noch mit Josts Tod beschäftigt waren, bemerkte niemand, dass die Gouvernante sich nicht an ihre Routine hielt.
Als sie die Treppe von ihrer Kammer nach unten kam, begegnete sie Herrn Ganz, der ihr berichtete, dass die Bahnlinie wieder offen war. «Ich muss mich jetzt um die Gräfin Tarnowska kümmern, sie will unbedingt noch heute abreisen. Gegen sechs Uhr sollte der erste Zug eintreffen, dann kann sie mit dem Achtuhrzug abreisen, obwohl ich nicht einsehe, wozu diese Hetze gut sein soll. Sie wird sich dann gegen Mitternacht eine Unterkunft in der Stadt suchen müssen. Sehr unvernünftig! Wahrscheinlich erwartet sie von mir, dass ich das auch noch für sie übernehme.»
Resigniert machte er sich auf den Weg zur Gräfin; vom exzentrischen Verhalten dieser Dame so in Anspruch genommen, dass er Annas Mantel nicht bemerkt hatte.
Anna setzte ihren Weg nach unten fort und trat ins Freie. Die Bahnstrecke mochte wieder frei sein, doch der dichte Schneefall zeigte kein Anzeichen von Nachlassen. Schwere Flocken – manche so gross wie eine Kinderhand – fielen vom Himmel, und man sah kaum zwei Meter weit.
Das Schneetreiben
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