Chill Bill (German Edition)
Musiksendung. Corelli lief ins Bad. Als er zurückkam, war alles noch viel schlimmer. Eine Blutlache sickerte aus den Khakihosen des Mulatten. Vincent lag auf dem Sofa und starrte die Decke an. Sein Gesicht hatte nicht mehr Farbe als die gekalkte Wand. In der Hand hielt er immer noch Borboletas Waffe. Aus seinem Mund kamen leise Worte: »Was sollen wir machen? Was machen wir jetzt nur?«
LIEBER ERNST
»Owienze!«, rief Carla, als sie am frühen Abend auf Vincent traf. Sie hatte ihre eigene Art, deutsche Namen auszusprechen. Vincent blieb stehen. Unter seinen Armen klemmten Haufen von Toilettenpapier, Haushaltstüchern und Servietten. Carla stutzte.
»Du siehst aus wie eine Leiche«, sagte sie.
Vincent blätterte abwesend im Wörterbuch,
lívido
– leichenblass.
»Alles in Ordnung«, versicherte er.
»Wo ist Hicki?«, fragte sie skeptisch.
»Einkaufen.«
Carla nickte. Die braunen Pupillen-Inseln schrumpften im Weiß ihrer Augen. Blicke ruhten auf Hygienepapier. Nie hätte ein ihr bekannter Mann sich mit einem solchen rufschädigenden Stapel von Haushaltswaren in der Öffentlichkeit blicken lassen. Selbst Edgard besorgte seine Siebensachen nachts und verstaute sie noch an der Ladenkasse in unverfänglichem Plastik. Momente wie dieser mussten es sein, die den deutschen Touristen in den Augen der Brasilianerin als idealen Lebenspartner erscheinen ließen.
Edgard lächelte sich durch die Barata Ribero, legte Vincent seine Hand auf die Schulter und wusste Bescheid. Endlich fand er die Bestätigung für den Verdacht, dass die deutschen Gäste seine sexuelle Orientierung teilten.
»Sag Hicki, ich komme später zu euch!«, sagte Carla.
»Nein.« Vincents Stimme überschlug sich. Und Edgard nickte wissend.
Carla erschrak. Sie forschte Vincents Gesicht aus.
»Ich will Briefe nach Deutschland schreiben. Da kann Hicki mir helfen.«
»Ich mache das«, erklärte Vincent und stürzte ins Ibiza, allein schon, um Edgards Häme zu entgehen. Drinnen begegnete er Patrícia und mit ihr der ersten schallenden Ohrfeige des Tages.
»›Lieber Ernst! Du hast mir geschrieben, dass du sehr oft versuchst mich anzurufen. Ich arbeite sehr viel. Darum hast du mich nicht erreicht. Aber ich möchte dich gern sehen. Im Mai könnte ich mir frei nehmen und dich in Deutschland besuchen, wenn du willst. Das Flugticket kostet 1200 US$. Bitte überweise das Geld an meine Bank usw. usw. usw. Viele Grüße!‹ Hier musst du unterschreiben.« Vincent reichte Carla die Übersetzung.
»Willst du Kaffee?
Quer agua
? …
Chopp
?«,
fragte sie.
Es war ungewöhnlich, von einer Nutte eingeladen zu werden. Vincent starrte abwesend auf die Tischplatte. In seinem Gesicht glühte der Abdruck von Patrícias Hand. In seiner Tasche klapperten Handschellen mit Hoheitssymbolen der nationalen Streitkräfte Brasiliens, im Apartment feierten die Fliegen ihr Sommerfest.
»
Vamos traduzir a segunda carta
!
«
»Wie lange bist du in Rio?«, fragte Carla.
»Zwei Wochen«, antwortete Vincent.
»Du hast eine Menge gelernt. Gut, übersetzen wir den nächsten Brief!«
Die
Mulata
streifte sich einen nachdenklichen Gesichtsausdruck über, der wenig zu ihr passen wollte, und presste eine Anrede hervor.
»›Lieber Franz!‹ Schreib ihm, ich komme ihn im Mai besuchen. Ich habe dann Urlaub. Ich brauche Geld für das Ticket. 1200 US$. Er soll es an meine Bank schicken.«
Vincent formulierte die Feinheiten. Danach schrieben sie an René, ihren Schweizer. Für ihn kostete der Flugschein 1500 US$. Er war reich und außerdem derjenige, den sie heiraten wollte. Carla war Geschäftsfrau. Vincent überschlug die Summen, die er nacheinander hingeschrieben hatte, und setzte sie zu seinen eigenen Einkünften und den entsprechenden Gegenleistungen in Relation. Ihm wurde einiges klar.
»Ich muss gehen«, sagte er.
BORBOLETA HEISST SCHMETTERLING
In der Nacht fuhren sie zu dritt mit dem Aufzug ins oberste Stockwerk: Vincent, Corelli, Borboleta. Der Dicke sah friedlich aus wie ein Engel. Er ließ sich schwerer transportieren als drei offene Zementsäcke. Sie brachten ihn aufs Dach. Der Kies knirschte unter den schweren Schritten. Sambaklänge verirrten sich aus den Häuserschluchten herauf. Ein beeindruckender Sternenhimmel wölbte sich vom Meer zu den
Morros
. An der Stelle, die Vincent ausgewählt hatte, hievten sie die Leiche über die Mauer. Das Nachbardach lag unter ihnen. Die Stelle, die sie Borboleta zugedacht hatten, war von keinem der anderen Gebäude einzusehen.
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