Chimären
verstummend stehen, dann wechselte er stolpernd, den Streunenden misstrauisch im Auge behaltend, auf die gegenüber liegende Straßenseite. Dort verfolgte er mit dem Blick Lux, bis dieser aus dem Lichtkegel der nächsten Laterne ins Dunkle glitt. „Mach’ dich ja fort, du!“, rief er hinterher und überquerte abermals die Straße.
Bald säumten mehrstöckige Häuser die Straße beiderseitig, Querverbindungen mündeten ein, der Autoverkehr nahm zu. Auch immer mehr Passanten bevölkerten die Gehsteige. Kaum einer von ihnen begegnete Lux mit Gleichmut. Die meisten wichen ihm ängstlich aus; einige wechselten die Straßenseite, wenn sie ihn herantrotten sahen.
Die Nacht verblasste.
Die Dachkanten der hohen Häuser hoben sich gegenüber dem fahlen, rötlichen Himmel ab. Geduckt, mit der Nase fast den Boden berührend, lief Lux im Winkel zwischen Häuserwänden und Bürgersteig weiter, und langsam formte sich in seinem Bewusstsein, dass die Spaziergänge mit Shirley außerhalb des Instituts etwas anderes gewesen waren als dieses ziellose Dahinlaufen in feindselig-verängstigter Begegnung mit diesen Menschen.
Aus einer Seitenstraße bog eine Frau ein, kam Lux entgegen, und sie führte einen großen braunen Terrier an der Leine. Lux blieb stehen, drückte sich an die Mauer.
Als der Terrier seiner gewahr wurde, kauerte er sich nieder und robbte gleichsam auf Lux zu, und er machte keine Anstalten, die mahnenden Worte und später das heftige Zerren an der Leine seiner Führerin zu beachten.
Unvermittelt sprang er auf Lux mit äußerst wütendem, heißerem Kampfgeröchel zu, riss die erschrockene Frau beinahe um, wurde wenige Zentimeter vor dem Ziel seines Angriffs aber doch jäh gebremst, bäumte sich im Würgegriff des Halsbandes auf die Hinterbeine und geriet in heftige Atemnot – noch immer mit geiferndem Maul und gefletschten Zähnen.
Lux drückte sich vorbei und flüchtete mit eingezogenem Schwanz.
Er sah noch, wie sich die Frau zum Terrier beugte, ihm beruhigend ins Halsband fasste, und er hörte, wie sie auf ihn einsprach: „Ist ja gut, ist ja gut. Schau nur, wie sich der Große vor dir fürchtet. Wie er den Schwanz eingezogen hat…“
Ein Mann, der den Vorgang beobachtet hatte, schimpfte: „Man müsste diese Streuner erschießen und ihre Besitzer einsperren. Eine Unverschämtheit ist das.“
Lux lief arg verunsichert und ängstlich weiter.
Es tat sich linker Hand ein mit Büschen und Bäumen bewachsener kleiner Platz auf. Blumenrabatten säumten einen Weg, der einen Bogen beschrieb und ein Stück entfernt wieder zum Bürgersteig führte. An ihm standen drei Bänke. Lux kroch unter die mittlere und streckte sich lang hin. Nur langsam legte sich seine Erregung. Er konnte das Erlebte nicht einordnen. Mögen Menschen Hunde nicht? Das konnte er sich nicht vorstellen. ,Shirley hat eine Menge rührender Geschichten erzählt, nach denen Hunde beste Freunde und Helfer der Menschen sein sollen. Sie ziehen Schlitten, graben nach Verschütteten, führen Blinde. Sie sind die Gipfel der Treue, Akteure im Sport und bei Schönheitswettbewerben. Man hat für sie Frisiersalons eingerichtet, näht ihnen teure Kleider und bestattet sie auf Friedhöfen. Sie sind Jagdgefährten und Spielkameraden von Kindern…
Und warum weichen sie mir ängstlich aus, verjagen und beschimpfen mich? Weil ich allein bin, beißen kann, wenn es nötig ist? Shirley hat auch von gefährlichen Hunden gesprochen. Wie jener vorhin…? Warum habe ich ihm nicht gezeigt, wo seine Grenze ist? Weil er zu diesem Menschen, zu der Frau gehörte? Es wäre nicht schwer gewesen, ihn zu bezwingen. Und dann? Was hat der Mann gerufen: »erschießen müsste man ihn…« Nicht der Terrier war gemeint, ich! Aber ich war friedlich. Er hat angegriffen und Zuwendung erfahren. Weil er angebunden war!’ Plötzlich kam Lux diese Erkenntnis. ,Weil er an einer Leine hängt! Und ich bin frei. Weil ich frei bin, soll ich erschossen werden. Und meine Besitzerin – ich habe eine Besitzerin – sollte eingesperrt werden, weil ich frei bin… Allein bin ich also nichts? Nur neben Shirley mag man mich?’ Lux’ Gedanken schwirrten chaotisch. Er spürte sein Unvermögen, sie zu ordnen, Geradlinigkeit hineinzubringen. Verzweiflung packte ihn. ,Ich muss zurück! Schäffi, ich wollte Schäffi helfen, uns helfen. Wollte erkunden, ob es für solche wie uns einen Platz gibt. Es gibt keinen! Sie mögen uns nicht, Schäffi. Nicht die
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