Chimären
Lux’ Drohung, den Mann von der Mauer stürzen zu wollen, falls der Strom weiterhin abgeschaltet geblieben wäre. „Warum sieht man die anderen beiden nicht?“, fragte sie wieder wie nebenbei.
„Na, Mensch, die haben uns mit Waffen angegriffen. Glori ist dabei draufgegangen. Die werden natürlich bewacht und dürfen nicht rumlaufen wie du.“
„Natürlich“, sagte Susan. Sie zog den Teller mit dem Palatschinken zu sich und drehte ihn dabei ein wenig. Sie setzte bereits das Messer an, da stutzte sie und drehte das Geschirr noch ein Stückchen. Ihr Herz machte einen gewaltigen Hopser, und sie spürte, wie vor Erregung Röte in ihr Gesicht stieg. Sie zwang sich, vom Tisch wegzusehen, griff den leergegessenen Teller und schob ihn auf den Servierwagen. „Kannst schon abräumen, den Nachtisch hebe ich mir für später auf.“ Sie mühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.
Arglos befolgte Ron ihren Hinweis, reckte sich wieder zur Schubstange seines Wägelchens empor und zog damit ab.
Noch bevor sich die Tür richtig hinter ihm geschlossen hatte, wandte sich Susan hastig dem verzierten Palatschinken zu. Es bestand überhaupt kein Zweifel: Verschnörkelt, in die Randverzierungen eingebunden, stand da in Schokoladenschrift „Fred“.
Susan atmete tief ein, ein Glücksgefühl durchzog sie. ,Fred ist hier’, dachte sie immer wieder, ,Fred.’ Tränen stiegen ihr in die Augen, der Gedanke, der Gefährte ist ganz nah, überwältigte sie. Und dann wurde ihr bewusst, er war dabei, als sie befreit werden sollte! ,Er hat es sich nicht nehmen lassen, wollte nicht abseits stehen, als es um seine Susan ging. Oh, ich liebe dich, liebe dich, Fred!’ Und noch immer unter Tränen zerstückelte sie das Gebäck, verschlang es in großen Stücken, ohne etwas davon zu schmecken. ,Fred ist hier’, dachte sie immer wieder. ,Ich muss zu ihm, muss zu ihm!’ Aber weiter trugen ihre Gedanken in diesen Augenblicken nicht. Nur langsam beruhigte sie sich. Mit dem Finger nahm sie die Schokoladenreste auf, leckte sie auf und schmeckte die Süße. ,In der Restaurantküche ist er. Ja, kochen ist sein Hobby, und damit hat er sofort seine Chance zur Kontaktaufnahme ergriffen, der Teufelskerl. Etwa schon gestern?’ Susan überlegte krampfhaft, wo am Vortag eine Nachricht versteckt gewesen sein konnte. ‚Kartoffelpüree mit Fischfilet… Die merkwürdigen Runen im Püree, gefüllt mit zerlassener Butter?’ Sie erinnerte sich, dass sie diese als Erstes zerstört hatte, weil sie so viel Butter nicht mochte. ,Wie dem auch sei. Ich werden ihn aufsuchen!’
Susan wusste, dass sie sehr überlegt zu Werke gehen musste, um den Kontakt nicht ein für alle Mal zu gefährden. Die Kidnapper konnten sehr misstrauisch sein, und zu viele Möglichkeiten des konspirativen Vorgehens gab es wohl im begrenzten Territorium der Festung nicht. Sie
musste davon ausgehen, dass Fred das Restaurant nicht ohne großes Risiko verlassen konnte, also musste sie an den Wachen vorbei hinein.
Ein Auftrag Lux’ lag nicht an. Schnurstracks machte sich Susan auf den Weg zu einer ersten Inspektion.
Vom neuen Zeughaus, in dem sich ihr Quartier befand, bis zum Restaurant betrug die Entfernung höchstens 250 Meter.
Susan zwang sich zu einem Umweg, um keineswegs aufzufallen. Man wusste nicht, wo sich gerade eines dieser Geschöpfe aufhielt. Sie strichen herum, lagerten da und dort, oft erblickte man sie erst im letzten Augenblick. Und Susan konnte sich sicher sein, dass sie alle, den wenigen Menschen in der Festung gegenüber, ihre Instruktionen hatten.
Von der Parkzisterne her näherte sie sich an der alten Kaserne vorbei ihrem Ziel. Aber bevor sie es erreichte, stieß sie auf einen dichten Kordon lagernder Hunde, alle 20 bis 30 Meter einer. Und schon der erste, dem sie sich näherte, knurrte bösartig.
„He, was ist!?“, fuhr Susan den Wächter an. „Ich habe Durst, will mir etwas zum Trinken holen. Du weißt wohl nicht, wer ich bin?“ Natürlich wusste sie mittlerweile, dass außer Ron mit ihr keines dieser Geschöpfe sprach.
Der nächste Hund sprang heran, sah eine Sekunde zu ihr empor und lief dann spornstreichs zum Restaurant, verschwand darin, kam wenige Augenblicke später heraus und trug eine Flasche Mineralwasser quer im Maul. Die legte er Susan vor die Füße.
Als sie sich bückte, um die Flasche aufzuheben, und dabei zum Gebäude blickte, durchfuhr sie ein freudiger Schreck. Hinter dem Fenster
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