Chocolat
an.«
»Armande würde Ihnen das Geld bestimmt leihen.«
»Nein.« In dieser Frage ist er unerbittlich. »Sie hat schon genug für mich getan.« Mit dem Zeigefinger fuhr er um den Rand seiner Tasse. »Außerdem hat Narcisse mir einen Jobangeboten«, sagte er. »Vorerst im Gewächshaus, und später bei der Weinlese, dann kommen die Kartoffeln, die Bohnen, Gurken, Auberginen … Genug Arbeit, um mich bis November zu beschäftigen.«
»Gut.« Ich freue mich, daß er seinen Enthusiasmus und seine Zuversicht wiedergefunden hat. Er sieht auch wieder besser aus, wirkt entspannter, ohne diesen feindseligen, mißtrauischen Blick, der sein Gesicht wie ein verwunschenes Haus überschattete. Die letzten Nächte hat er auf Armandes Bitte hin in ihrem Haus verbracht.
»Für den Fall, daß ich noch mal so einen Anfall habe«, sagt sie ernst und wirft mir dabei hinter seinem Rücken einen seltsamen Blick zu. Ob die Gefahr nur eingebildet ist, oder nicht, ich bin froh, zu wissen, daß er bei ihr ist.
Ganz im Gegensatz zu Caro Clairmont. Sie kam am Mittwoch morgen zusammen mit Joline Drou in den Laden, angeblich, um über Anouk zu reden. Roux saß an der Theke und schlürfte seinen Mokka. Joséphine, die sich immer noch vor Roux zu fürchten scheint, war in der Küche dabei, Pralinen zu verpacken. Anouk war noch beim Frühstücken und saß an der Theke, eine gelbe Tasse chocolat au lait und ein halbes Croissant vor sich. Die beiden Frauen schenkten Anouk ein honigsüßes Lächeln und bedachten Roux mit einem verächtlichen Blick. Roux starrte sie hochmütig an.
»Ich hoffe, wir kommen nicht ungelegen.« Jolines weiche, geübte Stimme trieft vor Sorge und Mitgefühl. Dahinter verbirgt sich jedoch nichts als Gleichgültigkeit.
»Überhaupt nicht. Wir sind gerade beim Frühstücken. Kann ich Ihnen etwas anbieten?«
»Nein, nein. Ich frühstücke nie.«
Ein verschämter Blick zu Anouk hinüber, die jedoch mit ihrer Schokolade beschäftigt war.
»Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten«, sagte Joline betont freundlich. »Unter vier Augen.«
»Nun, das wäre sicherlich kein Problem«, erwiderte ich,»aber ich bin sicher, daß das nicht nötig ist. Können Sie mir hier nicht sagen, was Sie auf dem Herzen haben? Roux macht das bestimmt nichts aus.«
Roux grinste, und Joline verzog das Gesicht.
»Na ja, es ist ein bißchen delikat «, sagte sie.
»Sind Sie denn sicher, daß ich die Richtige bin, um darüber zu reden? Ich hätte gedacht, daß Reynaud in solchen Dingen viel –«
»Nein, ich möchte mich mit Ihnen unterhalten«, sagte Joline steif.
»Ach so.« Höflich: »Worüber?«
»Es handelt sich um Ihre Tochter.« Sie lächelte gekünstelt. »Wie Sie wissen, bin ich ihre Klassenlehrerin.«
»Das weiß ich.« Ich schenkte Roux noch eine Tasse Mokka ein. »Was ist denn los? Kommt sie nicht mit? Hat sie Probleme?«
Ich weiß ganz genau, daß Anouk keine Probleme hat. Seit sie viereinhalb ist, liest sie ein Buch nach dem anderen. Ihr Französisch ist tadellos, und seit unserer Zeit in New York spricht sie auch fließend Englisch.
»Nein, nein«, versichert Joline mir eilig. »Sie ist ein sehr gescheites Mädchen.« Sie schaut kurz zu Anouk hinüber, aber meine Tochter ist mit ihrem Croissant beschäftigt. Weil sie sich unbeobachtet glaubt, stibitzt sie eine Schokoladenmaus und stopft sie in ihr Croissant, um ein pain au chocolat daraus zu machen.
»Dann geht es wohl um ihr Betragen?« frage ich ohne übertriebene Sorge. »Stört sie den Unterricht? Ist sie nicht folgsam? Ist sie unhöflich?«
»Nein, nein. Natürlich nicht. Es ist nichts dergleichen.«
»Was ist es dann?«
Caro schaut mich säuerlich an.
» Curé Reynaud ist in dieser Woche mehrmals in der Schule gewesen«, unterrichtet sie mich. »Er hat mit den Kindern über die Bedeutung des christlichen Osterfests gesprochen und so weiter.«
Ich nickte ermunternd. Joline schenkte mir ein mitfühlendes Lächeln.
»Nun, Anouk scheint« – ein erneuter Blick in Anouks Richtung –, »nun ja, sie stört nicht gerade, aber sie hat ihm einige äußerst seltsame Fragen gestellt.« Ihr Lächeln drückte tiefes Mißfallen aus.
» Sehr seltsame Fragen«, wiederholte sie.
»Ach ja«, sagte ich leichthin. »Sie ist schon immer sehr neugierig gewesen. Ich bin sicher, daß Sie es begrüßen, wenn Schüler wißbegierig sind. Außerdem«, fügte ich schelmisch hinzu, »wollen Sie mir doch wohl nicht erzählen, es gäbe irgendein Thema, zu dem Monsieur Reynaud nicht
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