Chocolat
Ein Schatten in einem fremden Zimmer.
Statt einer Antwort entsteht das Bild erneut vor mir, hell und leuchtend wie ein Transparent: Reynaud am Bett eines alten Mannes, seine Lippen bewegen sich, als betete er, hinter ihm lodern Flammen wie Sonnenlicht in einem Kirchenfenster. Es ist kein beruhigendes Bild. In der Haltung des Priesters liegt etwas Raubtierhaftes, die beiden geröteten Gesichter haben eine gewisse Ähnlichkeit, das dunkel glühende Licht der Flammen wirkt bedrohlich. Ich versuche, meine psychologischen Kenntnisse zu Hilfe zu nehmen. Der Schwarze Mann symbolisiert den Tod, ein Archetyp, der meine Angst vor dem Unbekannten widerspiegelt. Es überzeugt mich nicht. Der Teil in mir, der immer noch zu meiner Mutter gehört, spricht deutlicher zu mir.
Du bist meine Tochter, Vianne , sagt sie mir unerbittlich. Du weißt, was es bedeutet .
Es bedeutet, daß wir weiterziehen müssen, wenn der Wind sich dreht, daß wir die Zukunft aus den Karten lesen, daß unser Leben eine permanente Flucht ist …
»Ich bin nichts Besonderes.« Unwillkürlich habe ich laut gesprochen.
»Maman?« Anouks verschlafene Stimme.
»Schsch«, sage ich. »Es ist noch nicht Morgen. Schlaf noch ein bißchen.«
»Sing mir was vor, Maman«, murmelt sie und streckt in der Dunkelheit einen Arm nach mir aus. »Sing noch mal das Lied vom Wind.«
Also singe ich, lausche meiner eigenen Stimme, die von dem leisen Quietschen der Wetterfahne begleitet wird;
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
V’là l’bon vent, ma mie m’appelle,
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent,
V’là l’bon vent, ma mie m’attend .
Nach einer Weile höre ich Anouk wieder regelmäßig atmen, und ich weiß, sie ist wieder eingeschlafen. Ihre Hand liegt immer noch in meiner, weich und schwer. Wenn Roux mit der Arbeit am Dach fertig ist, wird sie wieder ihr eigenes Zimmer haben, dann werden wir beide wieder ruhiger schlafen. Heute nacht fühle ich mich allzusehr an all die Hotelzimmer erinnert, in denen meine Mutter und ich geschlafen haben, umhüllt von der Feuchtigkeit unseres eigenen Atems, die beschlagenen Fenster, und draußen der stete Lärm des Straßenverkehrs.
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent …
Diesmal nicht, verspreche ich mir im stillen. Diesmal bleiben wir. Egal, was passiert. Aber noch während ich einschlafe, fange ich unwillkürlich an, zu überlegen, wie es wäre. Sehnsüchtig und voller Ungläubigkeit.
Mittwoch, 19. März
Neuerdings scheint im Laden von dieser Rocher weniger los zu sein. Armande Voizin ist nicht mehr dagewesen, obwohl ich sie mehrmals im Dorf gesehen habe. Sie hat sich wieder recht gut erholt, bewegt sich mit forschen Schritten und ist kaum auf ihren Stock angewiesen. Ich sehe sie häufig zusammen mit Guillaume Duplessis, der diesen mickrigen Welpen überallhin mitnimmt, und Luc geht sie jeden Tag besuchen. Als sie erfuhr, daß ihr Sohn Armande seit einiger Zeit heimlich besucht, lächelte Caroline Clairmont gequält.
»Ich habe keinen Einfluß mehr auf ihn, Vater«, jammerte sie. »Er war immer so ein guter Junge, so ein folgsames Kind, aber jetzt –«
Mit theatralischer Geste schlug sie sich mit den manikürten Händen vor die Brust.
»Ich habe ihm – auf die allersanfteste Art– erklärt, er hätte mir sagen müssen, daß er seine Großmutter besucht –« Sie seufzte. »Als hätte er annehmen müssen, ich hätte etwas dagegen gehabt, der dumme Junge. Ich habe natürlich nichts dagegen, habe ich ihm gesagt. Ich freue mich, daß ihr beiden euch so gut versteht – schließlich wirst du eines Tages eine Menge von ihr erben … Und plötzlich schreit er mich an, das Geld würde ihn nicht im geringsten interessieren, und er hätte mir nichts davon gesagt, weil er genau gewußt hätte, daß ich ihm alles verderben würde, ich sei eine heuchlerische Betschwester … Das sind ihre Worte, Vater, darauf würde ich mein Leben verwetten –« Sie betupfte sich vorsichtig die Augen, ängstlich darauf bedacht, ihr tadelloses Make-up nicht zu verschmieren.
»Was habe ich nur falsch gemacht?« jammerte sie. »Ich habe alles für diesen Jungen getan, er hat alles von mir bekommen. Daß er sich jetzt so von mir abwendet, mir alles vor die Füße wirft wegen dieser Frau …« Trotz der Tränen war ihre Stimme hart. »Sie ist schlimmer als eineGiftschlange«, lamentierte sie. »Sie können sich nicht vorstellen, was das für eine Mutter bedeutet, Vater.«
»Oh, Sie sind nicht die einzige,
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