Chocolat
glauben.«
»Was soll ich ihm denn sagen?« Sie rang verzweifelt die Hände. »Ich wünschte, er würde einfach verschwinden«, sagte sie wütend. »Ich wünschte, er würde sein Geld nehmen und woanders hingehen.«
»Nein, das stimmt nicht«, sagte ich. »Außerdem wird er sowieso nicht gehen.« Ich erzählte ihr, was Roux mir über den Job bei Narcisse und das Boot in Agen berichtet hatte. »Er hat es wenigstens verdient zu erfahren, wer ihm das angetan hat«, beharrte ich. »Dann wird er begreifen, daß allein Muscat schuldig ist und daß niemand sonst im Dorf ihn haßt. Das müßten Sie doch verstehen, Joséphine. Sie wissen doch selbst, wie man sich in einer solchen Situation fühlt.«
Joséphine seufzte.
»Aber nicht heute«, sagte sie. »Ich werd’s ihm sagen, aber ein andermal. In Ordnung?«
»Es wird nicht leichter, wenn Sie es vor sich herschieben«, warnte ich sie. »Möchten Sie, daß ich mit Ihnen komme?«
Sie starrte mich an.
»Nun, er wird bald eine Pause einlegen müssen«, erklärte ich. »Sie könnten ihm eine Tasse Schokolade bringen.«
Schweigen. Ihr Gesicht war bleich und ausdruckslos. Ihre Hände zitterten. Ich nahm einen Trüffel aus einer Schale und steckte ihn in ihren halboffenen Mund, bevor sie Zeit hatte, etwas zu sagen.
»Das wird Ihnen Mut machen«, sagte ich und drehte mich um, um eine große Tasse mit Schokolade zu füllen. »Also los, beißen Sie zu.« Ich hörte ein winziges Geräusch, wie ein halbes Lachen. Ich reichte ihr die Tasse. »Sind Sie bereit?«
»Ich glaub schon«, sagte sie mit vollem Mund. »Ich werd’s versuchen.«
Ich las noch einmal das Flugblatt, das Joséphine auf der Straße gefunden hatte. Kirche statt Schokolade . Eigentlich ziemlich lustig. Der Schwarze Mann hat endlich seinen Sinn für Humor entdeckt.
Obwohl ein kräftiger Wind wehte, war es warm draußen. Die Dächer in Les Marauds schimmerten im Sonnenlicht. Langsam spazierte ich zum Tannes hinunter und genoß die Sonne auf meinem Rücken. Die Vorboten des Frühlings sind da, und in den Gärten und an den Straßenrändern blühen mit einemmal Narzissen, Iris und Tulpen. Selbst die windschiefen Häuser von Les Marauds sind mit lustigen Farbtupfern gesprenkelt, allerdings sind die ehemals gepflegten Gärten alle verwildert; auf einem Balkon, der über den Fluß hinausragt, blüht ein Holunderstrauch, ein Dach ist über und über mit gelbem Löwenzahn bedeckt, aus Mauerritzen lugen kleine Veilchen. Veredelte Gartengewächse haben sich in ihre Wildformen zurückentwickelt; kleine, feinstielige Geranien wuchern zwischen Schierlingsdolden, überall haben sich Mohnblumen ausgesät und durch Kreuzungen ihr ursprüngliches Rot über Orange in eine ganz blasse Malvenfarbe verwandelt. Nur wenige Tage Sonnenschein reichen aus, um sie aus ihrem Winterschlaf zu wecken; nach dem Regen richten sie sich auf und recken die Köpfe dem Licht entgegen. Man braucht nur eine Handvoll von diesem angeblichen Unkraut auszurupfen, und man findet Salbeiund Iris, Nelken und Lavendel zwischen Rüben und Kreuzkraut. Ich ging lange genug am Ufer spazieren, um Joséphine und Roux Zeit zu lassen, miteinander ins reine zu kommen, dann wanderte ich langsam durch die kleinen Gassen zurück, die Ruelle des Frères de la Révolution hinauf, und dann die Avenue des Poètes , eine enge, düstere Gasse zwischen beinahe fensterlosen Fassaden, aufgelockert nur von den von Balkon zu Balkon gespannten Wäscheleinen und hier und da einem Blumenkasten mit wildwuchernden Wicken.
Ich traf sie gemeinsam im Laden an, eine halbleere Kanne Schokolade zwischen sich auf der Theke. Joséphine hatte verweinte Augen, wirkte jedoch erleichtert, beinahe glücklich. Roux lachte gerade über etwas, das sie gesagt hatte, sein Lachen klang seltsam und ungewohnt, fremdartig, weil es so selten zu hören ist. Einen Augenblick lang war ich beinahe eifersüchtig, dachte: Die beiden gehören zusammen .
Später, als Joséphine fortgegangen war, um ein paar Besorgungen zu machen, sprach ich mit Roux. Er achtet sorgfältig darauf, nichts Indiskretes über sie zu sagen, doch seine Augen funkeln, als wollte jeden Augenblick ein Lächeln hervorbrechen. Anscheinend hatte er Muscat bereits im Verdacht gehabt.
»Es war gut, daß sie diesen Bastard sitzengelassen hat«, sagt er mit unverhohlener Verachtung. »Was dieser Kerl ihr angetan hat –« Einen Augenblick lang wird er verlegen, schiebt seine Tasse auf der Theke hin und her. »So ein Mann hat es nicht verdient,
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