Chocolat
ihren Optimismus nicht zerstören können. Wie er sich aufführt, sagt sie, sei teilweise ihre Schuld. Er habe einen schwachen Charakter; sie hätte sich viel früher gegen ihn zur Wehr setzen müssen. Für Caro Clairmont und ihre Freundinnen hat sie nur ein mitleidiges Lächeln übrig.
»Das sind doch dumme Gänse«, sagt sie bloß.
Welch schlichtes Gemüt. Sie ist jetzt vollkommen gelassen, im Frieden mit sich und der Welt. Gleichzeitig stelle ich fest, daß ich selbst immer weniger gelassen bin, wie aus einem perversen Widerspruchsgeist heraus. Und dennoch beneide ich sie. Es hat so wenig gebraucht, um sie so zufrieden werden zu lassen. Ein bißchen Wärme, ein paar geliehene Kleider und die Sicherheit eines eigenen Zimmers … Wie eine Blume wächst sie auf das Licht zu, ohne nachzudenken oder den Prozeß ihrer Veränderung zu analysieren. Ich wünschte, ich könnte das auch.
Mir fällt das Gespräch wieder ein, das ich am Sonntag mit Reynaud geführt habe. Was ihn antreibt, ist mir nach wie vor ein Rätsel. Neuerdings wirkt er beinahe verzweifelt, wenn er auf dem Friedhof arbeitet, wenn er wie ein Wilder gräbt und hackt – manchmal reißt er zusammen mit dem Unkraut die Blumen und Sträucher gleich mit aus –, wenn ihm der Schweiß den Rücken hinunterläuft, und ein dunklesDreieck auf seiner Soutane entsteht. Die harte Arbeit macht ihm keine Freude. Sein Gesicht ist vor Anstrengung verzerrt. Es ist, als würde er die Erde hassen, die er umgräbt, die Pflanzen, durch die er sich kämpft. Er wirkt wie ein Geizhals, der gezwungen ist, Berge von Geldscheinen in einen Ofen zu schaufeln; Gier, Abscheu und unterdrückte Faszination liegen in seinem Blick. Und dennoch gibt er nicht auf. Während ich ihn beobachte, flackert ein vertrautes Gefühl der Angst in mir auf, doch ich bin mir nicht sicher, wovor ich mich fürchte. Er ist wie eine Maschine, dieser Mann, mein Feind. Wenn ich ihn ansehe, fühle ich mich seinen prüfenden Blicken auf seltsame Weise ausgesetzt. Ich muß meinen ganzen Mut aufbringen, um ihm in die Augen zu schauen, ihn anzulächeln, mich unbefangen zu geben … doch etwas in meinem Innern schreit und sträubt sich und versucht zu fliehen. Es ist nicht nur einfach das Schokoladenfest, das ihn so in Rage versetzt. Das spüre ich so deutlich, als könnte ich seine Gedanken lesen. Es ist meine Anwesenheit hier im Dorf, die ihn aus der Fassung bringt. Für ihn bin ich eine lebende Schande. Er beobachtet mich unauffällig während der Arbeit auf dem Friedhof; sein Blick wandert immer wieder zu meinem Fenster und dann wieder zurück, voll verstohlener Genugtuung. Seit Sonntag haben wir nicht wieder miteinander gesprochen, und er nimmt an, er hätte einen Pluspunkt gegen mich gewonnen. Armande ist nicht wieder im Laden gewesen, und an seinen Augen erkenne ich, daß er glaubt, er sei der Grund dafür. Soll er es ruhig annehmen, wenn es ihn glücklich macht.
Anouk hat mir erzählt, daß er gestern in der Schule war. Er hat den Kindern von der Bedeutung des Osterfests erzählt – harmloses Zeug, und doch läuft mir bei der Vorstellung, daß meine Tochter seinem Einfluß ausgesetzt ist, ein Schauer über den Rücken –, hat ihnen eine Geschichte vorgelesen, ihnen versprochen, wiederzukommen. Ich fragte Anouk, ob er mit ihr gesprochen hätte.
»Na klar«, erwiderte sie vergnügt. »Er ist nett. Er hatgesagt, ich darf ihn besuchen und mir die Kirche ansehen, wenn ich Lust hab. Dann zeigt er mir den heiligen Franziskus und all die Tiere.«
»Und, möchtest du hingehen?«
Anouk zuckte die Achseln.
»Mal sehen«, sagte sie.
Ich sage mir – in den frühen Morgenstunden, wenn alles möglich scheint und meine Nerven kreischen wie die rostigen Scharniere der Wetterfahne –, daß meine Ängste völlig irrational sind. Was kann er uns schon anhaben? Wie könnte er uns weh tun, wenn das in seiner Absicht liegt? Er weiß nichts. Er kann nichts über uns wissen. Er hat keine Macht über uns.
Natürlich hat er das , sagt die Stimme meiner Mutter in mir. Er ist der Schwarze Mann .
Anouk wälzt sich unruhig im Schlaf hin und her. Feinfühlig, wie sie ist, spürt sie, daß ich wach bin, und versucht, sich durch einen Morast von Träumen zu kämpfen und auch aufzuwachen. Ich atme ganz ruhig, bis sie wieder in Tiefschlaf versinkt.
Der Schwarze Mann ist nichts als Einbildung, sage ich mir nachdrücklich. Eine Verkörperung von Ängsten, die sich hinter einer Karnevalsmaske verbergen. Ein Schauermärchen.
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