Chocolat
fast jede Frage beantworten könnte.«
Joline lächelte affektiert.
»Es irritiert die anderen Kinder, Madame«, sagte sie knapp.
»So?«
»Anscheinend hat Anouk ihnen erzählt, Ostern sei eigentlich gar kein christliches Fest, und die Lehre von unserem Herrn« – sie unterbrach sich verlegen – »und seiner Auferstehung stelle einen Rückgriff dar auf eine Art Gott des Getreides, auf eine Fruchtbarkeitsgöttin aus heidnischen Zeiten.« Sie lachte gezwungen, aber ihre Stimme war kalt.
»Ja.« Ich streichelte Anouks Locken. »Sie ist ein sehr belesenes Mädchen, nicht wahr, Nanou?«
»Ich hab ihn bloß nach Eostra gefragt«, sagte Anouk tapfer. » Curé Reynaud sagt, keiner feiert heute mehr ihr Fest, aber ich hab gesagt, wir schon.«
Ich verbarg mein Lächeln hinter einer Hand.
»Wahrscheinlich kann er das nicht verstehen, Liebes«, sagte ich. »Am besten, du stellst ihm nicht mehr so viele Fragen, wenn ihn das irritiert.«
»Es irritiert die Kinder , Madame«, sagte Joline.
»Nein, das stimmt gar nicht«, konterte Anouk. »Jeannot sagt, wir sollen ein Feuer anzünden, wenn das Fest kommt, und rote und weiße Kerzen und alles. Jeannot sagt –«
Caroline unterbrach sie.
»Jeannot scheint ja eine Menge gesagt zu haben«, bemerkte sie.
»Anscheinend kommt er ganz nach seiner Mutter«, sagte ich.
Joline wirkte beleidigt.
»Sie scheinen das alles nicht besonders ernst zu nehmen«, sagte sie, wobei ihr das Lächeln verrutschte.
Ich zuckte die Achseln.
»Ich sehe das Problem nicht«, erwiderte ich freundlich. »Meine Tochter beteiligt sich an der Klassendiskussion. Das ist es doch, was Sie mir erzählen, nicht wahr?«
»Es gibt Themen, die dürften eigentlich gar nicht zur Diskussion stehen«, fauchte Caro, und einen Moment lang sah ich unter der pastellfarbenen Maske ihre Mutter in ihr, herrisch und tyrannisch. Daß sie mal etwas Temperament zeigte, machte sie mir sympathischer. »Manche Dinge sind eine Frage des Glaubens , und wenn dieses Kind eine anständige Erziehung genießen und die grundlegenden moralischen Werte erlernen soll –« Verwirrt brach sie den Satz ab.
»Aber es liegt mir fern, Ihnen erzählen zu wollen, wie man ein Kind großzieht«, fuhr sie tonlos fort.
»Gut«, sagte ich lächelnd. »Es würde mir widerstreben, mich mit Ihnen zu streiten.«
Beide Frauen starrten mich verblüfft und angewidert an.
»Wollen Sie wirklich keine heiße Schokolade?«
Caros Blick wanderte sehnsüchtig über die Auslagen, die Pralinen, Trüffel, Mandelsplitter und Nougatherzen, die Eclairs, Florentiner, Likörkirschen und gebrannten Mandeln.
»Ein Wunder, daß dieses Kind keine faulen Zähne hat«, sagte sie spitz.
Anouk grinste und zeigte ihre Zähne. Daß sie makellos weiß waren, schien Caros Mißmut noch zu vergrößern.
»Wir verschwenden hier nur unsere Zeit«, sagte Carokühl zu Joline. Ich sagte nichts, und Roux kicherte in sich hinein. In der Küche hörte ich Joséphines kleines Kofferradio dudeln. Ein paar Sekunden lang war nichts zu hören als die Musik, die blechern von den Fliesen widerhallte.
»Komm, wir gehen«, forderte Caro ihre Freundin auf. Joline wirkte unsicher, zögerte.
»Ich hab gesagt, wir gehen !« Mit einer ungehaltenen Geste rauschte sie von dannen, Joline auf den Fersen. »Ich glaube nicht, daß Sie sich darüber im klaren sind, was auf Sie zukommt«, giftete sie zum Abschied, dann waren sie verschwunden. Ihre spitzen Absätze klapperten auf den Pflastersteinen, als sie den Platz überquerten.
Am nächsten Tag fanden wir das erste Flugblatt. Jemand hatte es zusammengeknüllt auf die Straße geworfen, und Joséphine hob es auf, als sie den Gehweg fegte, und brachte es mit in den Laden. Eine maschinengeschriebene Seite, eine Fotokopie auf rosafarbenem Papier, in der Mitte einmal gefaltet. Es war ohne Angabe des Verfassers, doch der Stil verriet, von wem der Text stammte.
Der Titel: OSTERN UND DIE RÜCKKEHR ZUM GLAUBEN.
Ich überflog die Zeilen. Der Inhalt entsprach weitgehend dem, was die Überschrift nahelegte. Es ging um die Osterbotschaft, um Läuterung, Sünde und die Bedeutung von Absolution und Gebet. Doch etwa in der Mitte des Blattes war eine fettgedruckte zweite Überschrift, die meine Aufmerksamkeit erregte.
Die neuen Erweckungsprediger: Wie sie den Osterglauben verfälschen.
Es wird immer eine kleine Minderheit geben, die versucht, unsere heiligen Traditionen zum persönlichen Vorteil auszunutzen. Die Grußkartenindustrie. Die Supermarktketten.
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