Chocolat
Viel gefährlicher jedoch sind jene Elemente, die versuchen, längst vergessene Traditionen wiederzubeleben und unseren Kindern unter dem Deckmantel harmloser Spiele heidnische Praktiken beibringen. Zu viele unter uns betrachten diese Dinge als unschädlich und begegnen ihnen mit Toleranz. Warum sonst hätte unsere Gemeinde es hinnehmen sollen, daß ausgerechnet am Ostersonntag außerhalb unserer Kirche ein sogenanntes Schokoladenfest stattfinden soll? Es ist ein Hohn auf alles, was Ostern bedeutet. Wir fordern Sie auf, um unserer unschuldigen Kinder willen dieses sogenannte Fest und alle ähnlichen Veranstaltungen zu boykottieren .
KIRCHE statt SCHOKOLADE, das ist die WAHRE OSTERBOTSCHAFT!!
»Kirche statt Schokolade.« Ich mußte laut lachen. »Das ist gar kein schlechter Slogan, was?«
Joséphine schaute mich besorgt an.
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte sie. »Das scheint Sie überhaupt nicht zu beunruhigen.«
»Warum sollte ich mich beunruhigen lassen?« fragte ich achselzuckend. »Es ist doch nur ein Flugblatt. Ich bin mir beinahe sicher, daß ich weiß, von wem das stammt.«
Sie nickte.
»Caro«, sagte sie nachdrücklich. »Caro und Joline. Das ist genau ihr Stil. Dieses Gefasel über unschuldige Kinder.« Sie schnaubte verächtlich. »Aber die Leute hören auf sie, Vianne. Da werden es sich einige noch einmal überlegen, ob sie kommen sollen oder nicht. Joline ist Lehrerin hier im Dorf. Und Caro ist Mitglied des Gemeinderats.«
»Wirklich?« Ich hatte gar nicht gewußt, daß es einen Gemeinderat gab. Wichtigtuerische Frömmler mit einer Vorliebe für jede Art von Klatsch. »Was können sie denn schon tun? Alle Leute verhaften lassen?«
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Paul ist auch im Gemeinderat«, sagte sie leise.
»Und?«
»Sie wissen ja, was er tun kann«, sagte Joséphine verzweifelt. Mir fiel auf, daß sie unter Streß wieder in ihre alten Angewohnheiten zurückfiel. Sie drückte ihre Daumen in ihrBrustbein wie sie es anfangs getan hatte. »Er ist verrückt, das wissen Sie doch. Er ist einfach –«
Gequält brach sie den Satz ab, die Fäuste vor der Brust geballt. Wieder hatte ich den Eindruck, daß sie mir etwas erzählen wollte, daß sie etwas wußte . Ich berührte ihre Hand, versuchte, ihre Gedanken zu erreichen, konnte aber nicht mehr erkennen als zuvor; Rauch, grau und fettig, vor einem roten Himmel.
Rauch! Meine Hand klammerte sich um ihre. Rauch! Jetzt wußte ich, was ich sah, konnte Einzelheiten erkennen; sein Gesicht bleich und verschwommen in der Dunkelheit, sein gehässiges, triumphierendes Grinsen. Sie schaute mich schweigend an.
»Warum haben Sie es mir nicht gesagt?« fragte ich schließlich.
»Sie können es nicht beweisen«, sagte Joséphine. »Und außerdem habe ich Ihnen überhaupt nichts gesagt.«
»Das brauchten Sie nicht. Ist das der Grund, warum Sie sich vor Roux fürchten? Wegen dem, was Paul-Marie getan hat?«
Sie reckte trotzig das Kinn vor.
»Ich fürchte mich nicht vor ihm.«
»Aber Sie weigern sich, mit ihm zu reden. Sie trauen sich nicht einmal, sich im selben Raum aufzuhalten wie er. Sie können ihm nicht in die Augen sehen.«
Joséphine verschränkte die Arme vor der Brust wie eine Frau, die nichts mehr zu sagen hat.
»Joséphine?« Ich drehte ihr Gesicht zu mir, zwang sie, mich anzusehen. » Joséphine? «
»Na gut.« Ihre Stimme klingt schroff. »Ich hab’s gewußt, okay? Ich wußte, was Paul vorhatte. Ich hab ihm gesagt, ich würde ihn verraten, wenn er irgendwas versuchte, und ich hätte sie gewarnt. Da hat er mich verprügelt.« Sie warf mir einen giftigen Blick zu, ihr Gesicht verzerrt von unvergossenen Tränen. »Ich bin also ein Feigling«, sagte sie tonlos. »Jetzt wissen Sie, was ich für eine bin, ich bin nicht somutig wie Sie, ich bin eine Lügnerin und ein Feigling, und ich hab ihn nicht aufgehalten. Jemand hätte dabei umkommen können, Roux hätte sterben können, oder Zézette oder ihr Baby, und es wäre alles meine Schuld gewesen!« Sie holte tief und mühsam Luft.
»Sagen Sie es ihm nicht«, bat sie. »Ich könnte es nicht ertragen.«
» Ich werde es ihm nicht sagen«, erwiderte ich sanft. »Das werden Sie tun.«
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, das mach ich nicht. Das kann ich nicht.«
»Ist schon gut, Joséphine«, beruhigte ich sie. »Es war nicht Ihre Schuld. Und es ist niemand umgekommen, oder?«
Trotzig: »Das kann ich nicht.«
»Roux ist nicht wie Paul«, sagte ich. »Er ist Ihnen ähnlicher, als Sie
Weitere Kostenlose Bücher