Chocolat
eine Frau zu haben«, brummt er. »Der hat keine Ahnung, was für ein Glück er hat.«
»Was werden Sie tun?« frage ich ihn.
Er zuckt die Achseln.
»Es gibt nichts zu tun«, erwidert er trocken. »Er wird alles leugnen. Die Polizei interessiert sich nicht für den Fall. Außerdem bin ich sowieso nicht darauf erpicht, mit denen zu tun zu haben.«
Er geht nicht weiter auf das Thema ein. Ich nehme an, daß es in seiner Vergangenheit Dinge gibt, die besser nicht ans Licht kommen.
Seitdem haben Joséphine und er viele lange Gespräche geführt. Sie bringt ihm Schokolade und Kuchen, wenn er Pause macht, und oft höre ich sie zusammen lachen. Ihr furchtsamer, abwesender Blick ist verschwunden. Mir fällt auf, daß sie sich sorgfältiger kleidet. Heute morgen verkündete sie sogar, sie wolle ins Café gehen, um ein paar Sachen abzuholen.
»Ich komme mit«, schlug ich vor.
Joséphine schüttelte den Kopf.
»Ich schaff das schon allein.« Sie wirkte glücklich, beinahe hochgestimmt über ihre Entscheidung. »Außerdem sagt Roux, wenn ich mich Paul nicht stelle –« Sie brach verlegen ab. »Ich wollte einfach noch mal rübergehen, das ist alles«, sagte sie störrisch. Ihre Wangen waren gerötet. »Ich hab noch Bücher, Kleider … Ich will meine Sachen holen, bevor Paul auf die Idee kommt, alles wegzuschmeißen.«
Ich nickte.
»Wann wollen Sie denn rübergehen?«
Ohne zu zögern: »Am Sonntag. Dann ist er in der Kirche. Wenn ich Glück hab, bin ich wieder weg, bevor er zurückkommt. Ich brauche nicht lange.«
Ich sah sie an.
»Sind Sie sicher, daß Sie allein gehen wollen?«
Sie nickte.
»Es wäre irgendwie nicht richtig.«
Ich mußte über ihren entschlossenen Gesichtsausdruck lächeln, aber ich wußte, was sie meinte. Es war sein Territorium – ihr Territorium –, auf unsichtbare Weise markiert mit den Spuren ihres gemeinsamen Lebens. Ich hatte dort nichts zu suchen.
»Ich schaff das schon.« Sie lächelte. »Ich weiß, wie ich mit ihm umgehen muß, Vianne. Ich hab das schon öfter überstanden.«
»Ich hoffe, daß es dazu nicht kommen wird.«
»Das wird es nicht.« Sie nahm meine Hand, wie um mich zu beruhigen. »Ich verspreche es.«
Sonntag, 23. März
Palmsonntag
Das Läuten der Glocken hallt dumpf von den geweißten Wänden der Häuser und Läden wider. Selbst die Pflastersteine vibrieren; ich spüre das leichte Beben durch meine Schuhsohlen. Narcisse hat die rameaux geliefert, die Palmsträußchen, die ich nach der Messe verteilen werde, und die die Leute für den Rest der Karwoche an ihren Kragen tragen oder an ihre Kruzifixe über dem Kamin oder dem Bett stecken werden. Ich werde Ihnen auch eins mitbringen, mon père , und eine Kerze für Ihren Nachttisch; warum sollen Sie leer ausgehen? Die Schwestern beäugen mich mit kaum verhohlener Belustigung. Nur die Angst und ihr Respekt vor meiner Soutane hält sie davon ab, laut über mich zu lachen. Ihre rosigen Schwesterngesichter glänzen vom heimlichen Kichern. Auf dem Korridor höre ich sie tuscheln:
Er glaubt, der Alte könnte ihn hören … er meint, der würde noch mal aufwachen … nein, wirklich? … o nein! … er redet die ganze Zeit mit ihm … einmal hab ich ihn beten hören – und dann mädchenhaftes Gekicher – hihihihihi! – wie Perlen, die über den Boden kullern.
Natürlich wagen sie es nicht, mir ins Gesicht zu lachen. In ihren makellos weißen Kitteln, das Haar unter gestärkten Hauben verborgen, den Blick gesenkt, könnte man sie für Nonnen halten. Klosterschülerinnen, die respektvoll ihre Floskeln murmeln – oui, mon père, non, mon père –, während sie sich heimlich amüsieren. Auch die Mitglieder meiner Gemeinde sind nicht mit dem rechten Ernst bei derSache – während der Messe sind sie unkonzentriert und können es hinterher kaum erwarten, in die chocolaterie zu eilen –, doch heute ist alles, wie es sein soll. Sie grüßen mich mit Respekt, beinahe furchtsam. Narcisse entschuldigt sich dafür, daß die Palmsträußchen diesmal nur aus Zedernzweigen bestehen.
»Das ist kein einheimischer Baum, Vater«, erklärt er mit seiner mürrischen Stimme. »Der gedeiht hier nicht. Der Frost macht ihn kaputt.«
Ich klopfe ihm väterlich auf die Schulter.
»Kein Problem, mon fils .« Seine Rückkehr in den Schoß der Gemeinde stimmt mich milde und gütig.
Caroline Clairmont nimmt meine Hand zwischen ihre behandschuhten Finger.
»Eine schöne Messe.« Ihre Stimme klingt warm.
»So eine schöne
Weitere Kostenlose Bücher