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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Charakter geformt. Die Kunst, Pech in Glück zu verwandeln. Das Fingerkreuzen, um Unheil abzuwehren. Das Nähen von Duftkissen, das Brauen von Heilsäften, die Überzeugung, daß eine Spinne vor Mitternacht Glück und nach Mitternacht Unglück bringt … Vor allem hat sie mir die Lust am Zigeunern vererbt, die Wanderlust, die uns durch ganz Europa und darüber hinaus geführt hat; ein Jahr in Budapest, eins in Prag, sechs Monate in Rom, vier in Athen, dann über die Alpen nach Monaco, dann die Küste entlang; Cannes, Marseille, Barcelona … Bis ich achtzehn war, konnte ich die Orte nicht mehr zählen, in denen wir gelebt, die Sprachen, die wir gesprochen hatten. Ebenso vielfältig waren ihre Jobs; sie arbeitete als Kellnerin, als Dolmetscherin, als Automechanikerin. Manchmal kletterten wir aus den Fenstern von billigen Hotels und zogen weiter, ohne die Rechnung zu bezahlen. Wir fuhren ohne Fahrkarte mit Zügen, fälschten Arbeitspapiere, überquerten illegal Grenzen. Unzählige Male wurden wir ausgewiesen. Zweimal wurde meine Mutterverhaftet und wieder freigelassen, ohne daß Anklage gegen sie erhoben worden war. Unsere Namen änderten sich in jedem Ort, variierten je nach Sprache; Yanne, Jeanne, Johanna, Giovanna, Anne, Anuschka … Wie Diebe waren wir ständig auf der Flucht, tauschten den sperrigen Ballast des Lebens in Francs, Pfund, Kronen, Dollar, während wir uns vom Wind treiben ließen. Ich glaube nicht, daß ich gelitten habe; in jenen Jahren war das Leben ein buntes Abenteuer. Wir hatten einander, meine Mutter und ich. Einen Vater habe ich nie vermißt. Ich hatte zahllose Freunde. Und dennoch muß es manchmal an ihr genagt haben, dieser Mangel an Beständigkeit, die Notwendigkeit, sich ständig zu verstellen. Doch über die Jahre zogen wir immer schneller weiter, blieben einen Monat, höchstens zwei, um dann wieder wie Flüchtlinge in den Sonnenuntergang aufzubrechen. Es dauerte Jahre, bis ich begriff, daß wir vor dem Tod davonliefen.
    Sie war vierzig. Es war Krebs. Sie hatte es schon eine ganze Weile lang gewußt, aber jetzt … Nein, kein Krankenhaus. Kein Krankenhaus, hatte ich das verstanden? Sie hatte noch Monate, vielleicht Jahre zu leben, und sie wollte Amerika sehen, New York, Florida, die Everglades … Wir zogen jetzt fast jeden Tag weiter, und meine Mutter legte sich nachts die Karten, wenn sie glaubte, ich schliefe. In Lissabon gingen wir an Bord eines Kreuzfahrtschiffes, auf dem wir uns als Küchenhilfen verdingt hatten. Wir arbeiteten bis zwei oder drei Uhr früh und standen im Morgengrauen wieder auf. Jede Nacht wurden neben ihr auf der Koje die Karten gelegt, die inzwischen vom vielen Gebrauch klebrig waren. Sie flüsterte ihre Namen vor sich hin, während sie immer tiefer in der Verwirrung versank, die sie schließlich ganz erfassen sollte.
    –  Zehn Schwerter, der Tod. Drei Schwerter, der Tod. Zwei Schwerter, der Tod. Der Wagen. Der Tod .
    Der Wagen entpuppte sich als ein New Yorker Taxi, als wir eines Abends mitten in der Hauptverkehrszeit in Chinatown einkaufen gingen. Es war jedenfalls besser als Krebs.Als meine Tocher neun Monate später geboren wurde, nannte ich sie nach uns beiden. Es schien mir angemessen. Ihr Vater hat sie nie kennengelernt – ja, ich bin mir nicht einmal sicher, welcher von meinen flüchtigen Geliebten es war. Es spielt auch keine Rolle. Ich hätte um Mitternacht einen Apfel schälen und die Schale über meine Schulter werfen können, um seine Initiale zu erfahren, aber es hat mich nie interessiert. Zuviel Ballast, der uns nur behindern würde.
    Und doch … Wehen die Winde nicht sanfter und weniger häufig, seit ich New York verlassen habe? Schnürt es mir nicht jedesmal ein wenig die Kehle zu, wenn wir einen Ort verlassen? Ich glaube schon. Fünfundzwanzig Jahre, und die Antriebsfeder beginnt langsam zu ermüden, so wie meine Mutter immer mehr ermüdete in ihren letzten Jahren. Ich ertappe mich dabei, wie ich in die Sonne schaue und mich frage, wie es wäre, wenn ich sie fünf – oder zehn oder vielleicht sogar zwanzig – Jahre lang über demselben Horizont aufgehen sähe. Der Gedanke verursacht mir einen seltsamen Schwindel, ein Gefühl der Angst und der Sehnsucht. Und Anouk, meine kleine Fremde? Seit ich selbst Mutter bin, sehe ich das verwegene Abenteuer, das wir so viele Jahre lang gelebt haben, mit anderen Augen. Ich sehe mich selbst als kleines braunes Mädchen mit ungekämmtem langem Haar, in abgetragenen Kleidern vom

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