Chocolat
meinte sie. »Vor allem für alte Leute.«Sie hielt einen Moment lang inne und schaute mich wieder eindringlich an. »Aber diesmal habe ich das Gefühl, daß wir reichlich Unterhaltung bekommen werden.« Ihre Hand berührte meine wie kühler Atem. Ich versuchte, ihre Gedanken zu lesen, wollte wissen, ob sie sich über mich lustig machte, doch ich spürte nichts als Humor und Freundlichkeit.
»Es ist doch nur eine chocolaterie «, sagte ich lächelnd.
Armande Voizin kicherte in sich hinein.
»Sie glauben wohl, ich sei von vorgestern«, sagte sie.
»Wirklich, Madame Voizin –«
»Nennen Sie mich Armande.« Die schwarzen Augen funkelten vor Vergnügen. »Dann fühle ich mich jung.«
»In Ordnung. Aber ich weiß wirklich nicht, warum –«
»Ich weiß, welcher Wind Sie hergetragen hat«, sagte sie eifrig. »Ich habe es genau gespürt. Der Mardi Gras. Der Karneval. In Les Marauds gibt es viele Karnevalsnarren; Zigeuner, Spanier, Kesselflicker, pieds-noirs und Ausgestoßene. Ich habe Sie sofort erkannt, Sie und Ihre kleine Tochter. – Wie nennen Sie sich diesmal?«
»Vianne Rocher.« Ich lächelte. »Und das ist Anouk.«
»Anouk«, wiederholte Armande leise. »Und der kleine, graue Freund – meine Augen sind nicht mehr so gut wie früher –, was ist es? Eine Katze? Ein Eichhörnchen?«
Anouk schüttelte ihren Lockenkopf. »Er ist ein Kaninchen «, erklärte sie heiter. »Er heißt Pantoufle.«
»Oh, ein Kaninchen. Natürlich.« Armande zwinkerte mir verschwörerisch zu. »Sehen Sie, ich weiß, was Sie beide hierhergebracht hat. Ich habe es selbst ein- oder zweimal erlebt. Ich mag vielleicht alt sein, aber niemand kann mir etwas vormachen. Niemand.«
Ich nickte.
»Vielleicht haben Sie recht«, sagte ich. »Kommen Sie doch mal zu uns in den Laden; ich kenne die Lieblingssorte jedes Kunden, der den Laden betritt. Ich werde Ihnen hundert Gramm Ihrer Sorte spendieren.«
Armande lachte.
»Oh, ich darf keine Schokolade essen«, sagte sie. »Caro und dieser idiotische Arzt erlauben es mir nicht. Sie verbieten mir alles, was mir Spaß macht«, fügte sie ironisch hinzu. »Zuerst das Rauchen, dann den Alkohol, und jetzt das …« Sie schnaubte verächtlich. »Weiß Gott, wenn ich aufhörte zu atmen, würde ich wahrscheinlich ewig leben.« In ihrem Lachen klang eine tiefe Müdigkeit mit, und ich sah, wie sie sich die Hand vor die Brust schlug, eine Geste, die mich an Joséphine Muscat erinnerte. »Ich mache ihnen keine Vorwürfe«, fuhr sie fort. »Es ist einfach ihre Art. Sie wollen einen vor allem beschützen. Vor dem Leben. Vor dem Tod.« Sie setzte ein Grinsen auf, das trotz all ihrer Runzeln mädchenhaft wirkte.
»Vielleicht komme ich Sie trotzdem einmal besuchen«, sagte sie nachdenklich. »Und wenn ich es nur mache, um Monsieur le Curé zu ärgern.«
Ihre letzte Bemerkung ging mir noch immer durch den Kopf, als sie schon längst hinter ihrem weißgetünchten Haus verschwunden war. Ein Stück entfernt ließ Anouk Steinchen über das seichte, brackige Wasser am Flußufer springen.
Monsieur le Curé . Immer wieder tauchte sein Name auf. Eine Weile dachte ich über Francis Reynaud nach.
In einem Ort wie Lansquenet kann es passieren, daß eine Person – der Schullehrer, der Kneipenwirt oder der Priester – zum Dreh- und Angelpunkt der Gemeinde wird. Daß dieser eine Mensch zur Achse des Räderwerks wird, das das Leben des gesamten Dorfes bestimmt, wie die Unruh eines Uhrwerks, die alle Zahnräder und -rädchen antreibt, Pendel schlagen läßt und die Zeiger dazu bringt, die Uhrzeit anzuzeigen. Wenn die Unruh beschädigt wird oder aus dem Takt gerät, bleibt die Uhr stehen. Lansquenet ist wie diese Uhr. Seine Zeiger sind bei einer Minute vor Mitternacht stehengeblieben, während das Räderwerk sinnlos hinter dem blanken Zifferblatt weitertickt. Wenn man den Teufelhereinlegen will, muß man die Kirchturmuhr verstellen, hat meine Mutter immer gesagt. Aber in diesem Fall läßt der Teufel sich nicht täuschen.
Nicht für einen Augenblick.
Sonntag, 16. Februar
Meine Mutter war eine Hexe. So bezeichnete sie sich jedenfalls, und zwar so oft und so lange, bis sie es selbst glaubte und das Spiel nicht mehr von der Wirklichkeit zu unterscheiden war. In gewisser Weise erinnert Armande Voizin mich an sie; die leuchtenden, spitzbübisch funkelnden Augen, das lange Haar, das in ihrer Jugend sicherlich glänzend schwarz gewesen ist, die Mischung aus Wehmut und Zynismus. Was ich von ihr gelernt habe, hat meinen
Weitere Kostenlose Bücher