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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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einer verborgenen Nessel – die Panik, die irrationale Angst, sie zu verlieren. Aber an wen? Mit wachsendem Unmut schüttelte ich den Gedanken ab. An ihn ? Sollte er es ruhig versuchen.
    »Selbstverständlich«, erwiderte er ruhig. »Mademoiselle Rocher. Ich bitte um Verzeihung.«
    Ich lächelte über sein Mißfallen. Irgendein perverses Bedürfnis in mir brachte mich dazu, darauf herumzureiten; meine Stimme wurde um eine Nuance zu laut, nahm einen vulgär-selbstbewußten Ton an, um meine Angst zu verbergen.
    »Es tut gut, hier auf dem Land jemandem zu begegnen, der Verständnis zeigt.« Ich schenkte ihm mein strahlendstes, unerbittlichstes Lächeln. »Ich meine, solange wir in der Großstadt lebten, hat sich niemand darum geschert. Aber hier …« Es gelang mir, zugleich zerknirscht undreuelos zu wirken. »Ich meine, es ist wirklich schön hier, und die Leute haben mir so geholfen … auf ihre eigenwillige Art. Aber wir sind hier schließlich nicht in Paris, nicht wahr?«
    Mit dem Anflug eines sarkastischen Lächelns pflichtete Reynaud mir bei.
    »Es stimmt schon, was man sich über das Leben auf dem Dorf erzählt«, fuhr ich fort. »Jeder ist neugierig und will alles von einem wissen. Ich nehme an, das liegt daran, daß es hier auf dem Land so wenig Zerstreuung gibt. Drei Läden und eine Kirche. Ich meine …« Ich kicherte. »Aber das wissen Sie ja alles.«
    Reynaud nickte ernst.
    »Vielleicht könnten Sie mir erklären, Mademoiselle …«
    »Nennen Sie mich doch Vianne«, unterbrach ich ihn.
    »… warum Sie sich entschlossen haben, sich in Lansquenet niederzulassen.« Sein öliger Ton triefte vor Abscheu, seine schmalen Lippen wirkten austernhafter denn je. »Wie Sie schon sagten, es ist hier nicht ganz so wie in Paris.« Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, daß der Vergleich zum Vorteil von Lansquenet ausfiel. »Ein Laden wie dieser …« Mit einer gelangweilten Geste seiner feingliedrigen Hand deutete er auf die ausgestellten Waren. »Solch ein Spezialitätengeschäft wäre doch in einer Stadt viel erfolgreicher – und schicklicher . In Toulouse, zum Beispiel, oder selbst in Agen …« Jetzt begriff ich, warum am Morgen niemand gewagt hatte, den Laden zu betreten. Schicklich  – in dem Wort klang die ganze eisige Verdammung des Fluchs des Propheten mit.
    Erneut streckte ich grimmig hinter der Theke meine beiden Finger gegen ihn aus. Reynaud schlug sich mit der flachen Hand in den Nacken, als hätte ihn ein Insekt gestochen.
    »Ich glaube nicht, daß die großen Städte das Vergnügen gepachtet haben«, sagte ich spitz. »Jeder braucht hin und wieder ein wenig Luxus, ein bißchen Genuß.«
    Reynaud erwiderte nichts. Wahrscheinlich teilte er meine Meinung nicht. Ich sprach es für ihn aus.
    »Ich nehme an, in Ihrer Predigt heute morgen haben Sie das Gegenteil erklärt«, sagte ich verwegen. Dann, als er immer noch nicht antwortete: »Aber ich denke, in diesem Dorf ist Platz genug für uns beide. Wir haben doch freies Unternehmertum, nicht wahr?«
    An seinem Gesichtsausdruck erkannte ich, daß er die Herausforderung verstand. Einen Moment lang starrte ich ihn feindselig lächelnd an. Reynaud zuckte zusammen, als hätte ich ihm ins Gesicht gespuckt.
    Leise: »Selbstverständlich.«
    Oh, ich kenne seine Sorte. Wir sind genug von ihnen begegnet, meine Mutter und ich, auf unserer Flucht durch Europa. Das immer gleiche höfliche Lächeln, die Verachtung, die Gleichgültigkeit. Eine kleine Münze, die einer Frau in der überfüllten Kathedrale von Reims aus der Hand fällt; strafende Blicke von einer Gruppe Nonnen, als die kleine Vianne herbeispringt, um sie aufzuheben, zu Boden stürzt und sich die nackten Knie aufschürft. Ein Mann im schwarzen Habit, der meine Mutter verärgert zur Rede stellt – während sie mit bleichem Gesicht aus der dunklen Kirche flieht und meine Hand so fest hält, daß es weh tut … Später erfuhr ich, daß sie versucht hatte, bei ihm zu beichten. Was hatte sie dazu veranlaßt? Einsamkeit vielleicht; das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, sich jemandem anzuvertrauen, der nicht ihr Liebhaber war … jemandem mit einem verständnisvollen Gesichtsausdruck. Aber konnte sie denn nicht sehen ? Sein Gesichtsausdruck, jetzt nicht mehr verständnisvoll, sondern vor Wut verzerrt. Es sei Sünde, Todsünde  … Sie solle das kleine Mädchen zu anständigen Leuten in Obhut geben. Wenn sie die kleine – wie hieß sie noch? Anne? – liebte, falls sie sie liebte, müsse sie dieses

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