Chocolat
Wohltätigkeitsbasar. Ich mußte Mathematik auf die harte Art lernen, Erdkunde auf die harte Art – Wieviel Brot für fünf Francs? Wie weit kommen wir mit einer Fahrkarte für fünfzig Mark? –, und das wünsche ich ihr nicht. Vielleicht sind wir deswegen schon seit fünf Jahren in Frankreich. Zum erstenmal im meinem Leben besitze ich ein Bankkonto. Ich habe einen Beruf.
Meine Mutter hätte all das verachtet. Und doch hätte sie mich vielleicht auch beneidet. Vergiß dich selbst, wenn du kannst , sagte sie immer. Vergiß, wer du bist. Solange du es ertragen kannst. Aber eines Tages, mein Mädchen, eines Tages wird es dich einholen. Ich weiß es .
Heute habe ich den Laden zur üblichen Zeit geöffnet. Ausnahmsweise nur für den Vormittag – ich gönne mir heute zusammen mit Anouk einen freien Nachmittag –, aber heute ist Messe, und es werden eine Menge Leute auf dem Dorfplatz sein. Der Februar zeigt sich von seiner trübsten Seite, und es regnet. Es ist ein kalter Schneeregen, der eine glitschige Schicht auf dem Kopfsteinpflaster bildet und den Himmel grauschwarz färbt wie angelaufenes Zinn. Anouk sitzt hinter der Theke und liest in einem Buch mit Kinderreimen; sie paßt für mich auf den Laden auf, während ich in der Küche einen neuen Vorrat an mendiants herstelle. Das ist mein Lieblingskonfekt: süße Taler aus Vollmilch-, Zartbitter- oder weißer Schokolade bestreut mit Zitronat, Mandeln und Malaga-Rosinen. Anouk mag am liebsten die weißen, während ich die dunklen bevorzuge, hergestellt aus der besten, siebzigprozentigen Kuvertüre … Bittersüß auf der Zunge mit einem exotisch-geheimnisvollen Beigeschmack. Meine Mutter hätte all das verachtet, und doch liegt auch darin eine Art Zauber.
Am Freitag habe ich vor der Theke von La Praline ein paar Barhocker aufgestellt, wunderbar kitschige aus Chrom mit roten Kunstledersitzen. Der Laden erinnert jetzt ein bißchen an die Diners, die wir in New York kennengelernt haben. Die Wände sind narzissengelb. Poitous alter orangefarbener Sessel steht wie ein bunter Farbklecks in der Ecke. Links vorn auf der Theke steht eine Speisekarte, in Rot- und Orangetönen von Anouk handgemalt:
Chocolat chaud 10 F
Gâteau au chocolat 10 F (la tranche)
Den Kuchen habe ich gestern abend gebacken, und die Schokolade steht in einer Kanne auf einer heißen Platte bereit. Ich stelle eine zweite Speisekarte ins Fenster und warte auf meine ersten Kunden.
Die Messe ist aus. Ich beobachte die Passanten, die mitmißmutigen Gesichtern durch den eiskalten Nieselregen eilen. Aus meiner Tür, die einen Spaltbreit offensteht, duftet es süß und verlockend. Ich bemerke hin und wieder sehnsüchtige Blicke, doch dann ein kurzer Blick über die Schulter, ein Achselzucken, ein Verziehen der Mundwinkel, das Entschlossenheit oder auch Unmut bedeuten mag, und dann sind sie auch schon verschwunden, kämpfen mit kläglich eingezogenen Schultern gegen den Wind an, als stünde ein Engel mit flammendem Schwert vor der Tür, der ihnen den Zugang verwehrt.
Zeit, sage ich mir. Solche Dinge brauchen Zeit.
Und dennoch befällt mich Ungeduld, ja, beinahe Ärger. Was ist los mit diesen Leuten? Warum kommen sie nicht? Die Kirchturmuhr schlägt zehn, dann elf. Ich sehe Leute in die Bäckerei gegenüber gehen und kurz darauf wieder herauskommen, einen Laib Brot unter dem Arm. Es hört auf zu regnen, doch der Himmel bleibt grau. Halb zwölf. Die wenigen Leute, die bis jetzt auf dem Dorfplatz herumgetrödelt haben, machen sich auf den Heimweg, zum Mittagessen. Ein Junge mit einem Hund kommt um die Ecke der Kirche, weicht dem Regenwasser aus, das von der Dachrinne tropft. Im Vorbeigehen würdigt er mein Schaufenster kaum eines Blickes.
Verdammt. Und das, wo ich gerade das Gefühl hatte, das Eis sei gebrochen. Warum kommen sie nicht? Können sie nicht sehen, nicht riechen ? Was muß ich denn noch alles tun?
Anouk, die ein feines Gespür für meine Stimmungen hat, kommt und umarmt mich.
»Nicht weinen, Maman.«
Ich weine nicht. Ich weine nie. Ihre Haare kitzeln mich im Gesicht, und plötzlich überkommt mich eine schreckliche Angst, sie zu verlieren.
»Es ist nicht deine Schuld. Wir haben uns solche Mühe gegeben. Wir haben alles richtig gemacht.«
Das stimmt. Wir haben sogar daran gedacht, die Tür mit roten Schleifen zu schmücken und Duftkissen mit Zedernholzund Lavendel auszulegen, um schlechte Einflüsse abzuwehren. Ich küsse sie auf den Kopf. Mein Gesicht ist feucht. Irgend etwas, vielleicht
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