Chocolat
Fenstern hinaufkriecht. In einer Stadt wie Agen würde ein malerisch verfallenes Viertel wie Les Marauds die Touristen anlocken. Aber hier gibt es keine Touristen. Die Einwohner von Les Marauds sind Lumpensammler, die von dem leben, was sie aus dem Fluß fischen. Viele Häuser sind baufällig; hier und da sieht man Holundersträucher aus Mauerritzen wachsen. Ich hatte den Laden über die Mittagszeit für zwei Stunden zugemacht und war mit Anouk zum Fluß hinunter spaziert. Ein paar magere Kinder spielen in dem grünlichen Schlamm am Flußufer; selbst im Februar liegt ein leichter Gestank nach Abwasser und Fäulnis in der Luft. Es war kalt und sonnig, und Anouk in ihrem roten Anorak und der roten Mütze rannte über das Kopfsteinpflaster mit Pantoufle auf den Fersen, dem sie immer wieder aufgeregt etwas zurief.Ich habe mich mittlerweile so sehr an Pantoufle gewöhnt – und an den Rest der seltsamen Menagerie, die sie stets in ihrem Gefolge führt –, daß ich bei solchen Gelegenheiten beinahe meine, ihn zu sehen, Pantoufle, mit seinen Schnurrhaaren und den klugen Augen. In diesen Augenblicken wird die Welt um mich herum plötzlich bunter, und es ist, als sei ich auf wundersame Weise zu Anouk geworden und sähe mit ihren Augen, liefe in ihren Fußstapfen. Dann könnte ich vergehen vor Liebe für sie, für meine kleine Fremde; dann schwillt mein Herz gefährlich an, und ich kann mich nur retten, indem ich zu rennen beginne, so daß mein roter Anorak im Wind flattert, als hätte ich Flügel bekommen, und mein Haar wie der Schweif eines Kometen hinter mir herweht.
Eine schwarze Katze lief vor mir über den Weg, und ich begann, um sie herumzutanzen und ein Kinderlied zu singen:
Où va-t-i, mistigri?
Passe sans faire de mal ici.
Anouk stimmte mit ein, und die Katze begann zu schnurren und warf sich auf den Rücken, damit wir sie kraulen konnten. Als ich mich hinunterbeugte, sah ich eine kleine alte Frau an der Ecke eines Hauses stehen, die mich neugierig beobachtete. Schwarzer Rock, schwarze Jacke, graues Haar, zu einem strengen Nackenknoten geflochten. Ihre Augen glänzten so schwarz wie die eines Vogels. Ich nickte ihr zu.
»Sie sind die Frau aus der chocolaterie «, sagte sie. Trotz ihres Alters – ich schätzte sie auf mindestens achtzig – hatte sie eine klare, feste Stimme und sprach mit dem rauhen Akzent des Midi.
»Ja, das stimmt«, erwiderte ich und nannte ihr meinen Namen.
»Armande Voizin«, sagte sie. »Ich wohne in dem Haus da drüben.« Mit einem Kopfnicken deutete sie auf eines derHäuser am Flußufer, das in einem etwas besseren Zustand zu sein schien als der Rest. Es war frisch geweißt, und in den Blumenkästen blühten rote Geranien. Und dann lächelte sie, und ihr Gesicht legte sich in tausend Falten. »Ich habe Ihren Laden gesehen. Er ist sehr hübsch, das muß ich zugeben, aber er taugt nicht für einfache Leute wie uns. Viel zu extravagant.« Es lag kein Mißfallen in ihrem Ton, eher ein amüsierter Fatalismus. »Wie ich höre, hat unser M’sieur le Curé Sie bereits aufs Korn genommen«, fügte sie mit einem spitzbübischen Lächeln hinzu. »Ich nehme an, er findet es unschicklich , daß sich an seinem Kirchplatz ein Süßwarenladen befindet.« Und wieder schaute sie mich spöttisch herausfordernd an. »Weiß er, daß Sie eine Hexe sind?« fragte sie.
Hexe, Hexe. Es ist nicht das richtige Wort, aber ich wußte, was sie meinte.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Oh, es ist nicht zu übersehen. Ich nehme an, man muß selbst eine sein, um eine andere zu erkennen«, sagte sie und stieß ein Lachen aus wie wildes Geigenquietschen. » M’sieur le Curé glaubt nicht an Zauberei«, sagte sie. »Ehrlich gesagt, bin ich mir nicht einmal so sicher, daß er an Gott glaubt.« In ihrem Ton schwang nachsichtige Verachtung mit. »Er muß noch viel lernen, dieser Mann, auch wenn er einen Doktortitel in Theologie hat. Und meine dumme Tochter auch. Im Fach Leben kann man keinen Doktortitel erwerben, nicht wahr?«
Ich stimmte ihr zu und fragte sie, ob ich ihre Tochter kennen würde.
»Ich nehme es an. Caro Clairmont. Die hirnloseste eitle Gans in ganz Lansquenet. Quatscht den ganzen Tag lang und besitzt nicht den geringsten Funken Verstand.«
Als ich lächelte, nickte sie fröhlich. »Keine Sorge, meine Liebe, in meinem Alter nimmt man sich kaum noch etwas zu Herzen. Sie kommt nach ihrem Vater, wissen Sie. Das ist ein großer Trost.« Sie sah mich seltsam an. »Hier gibt es nicht viel Abwechslung«,
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