Chocolat
betrat.
»Wir können –«
» Ich kann –«
»Ich heiße Jeannot –«
»Claudine –«
»Lucie –«
Ich schenkte jedem Kind eine Speckmaus, und im nächsten Augenblick sah ich sie auf dem Dorfplatz ausschwärmen wie Löwenzahnsamen im Wind. Ihre Anoraks blitzten kurz in der Sonne auf – rot-orange-grün-blau –, dann waren sie verschwunden. Im Schatten des Portals von Saint Jérôme sah ich den Priester stehen, der sie neugierig und, wie mir schien, mißbilligend beobachtete. Ich war überrascht. Warum sollte er ihr Verhalten mißbilligen? Seit seinem Pflichtbesuch am ersten Tag ist er nicht mehr bei uns gewesen, aber ich habe viel von ihm gehört. Guillaume spricht respektvoll über ihn, Narcisse entnervt, Caroline in dem koketten Ton, den sie stets anzuschlagen scheint, wenn sie über einen Mann unter Fünfzig spricht … Es liegt wenig echte Sympathie in der Art, wie sie über ihn reden. Er ist kein Einheimischer, wie ich gehört habe. Ein Seminarist aus Paris, der sein Wissen aus Büchern bezogen hat – er stammt nicht vom Land, kennt nicht dessen Bedürfnisse und Zwänge. Das weiß ich von Narcisse, der mit ihm in Fehde lebt, seit er sich weigerte, während der Erntesaison die Messe zu besuchen. Ein Mann, der Dummköpfe verachtet, sagt Guillaume mit einemtraurigen Halblächeln hinter seiner runden Brille, das heißt also, die meisten von uns mit unseren törichten Sitten und eingefahrenen Gewohnheiten. Dabei tätschelt er liebevoll Charlys Kopf, woraufhin der Hund kurz aufbellt, wie um ihn zu bestätigen.
»Er findet es lächerlich, einen Hund zu lieben«, sagt Guillaume wehmütig. »Er ist viel zu höflich, um es auszusprechen, aber er hält es für – unschicklich . Ein Mann in meinem Alter …« Bevor er pensioniert wurde, war Guillaume Lehrer an der hiesigen Grundschule. Heute gibt es für die immer geringer werdenden Schülerzahlen nur noch zwei Lehrer, aber viele der älteren Leute sprechen immer noch von Guillaume als dem maître d’école . Ich sehe ihm zu, wie er Charly die Ohren krault, und ich bin mir sicher, hinter der sichtbaren Zuneigung noch etwas anderes zu spüren, eine Art Traurigkeit, etwas in seinem Blick, das beinahe schuldbewußt wirkt.
»Jeder hat das Recht, sich seine Freunde auszusuchen, egal, wie alt er ist«, unterbrach ich ihn leicht aufgebracht. »Vielleicht könnte Monsieur le Curé selbst etwas von Charly lernen.« Wieder das freundliche, traurige Halblächeln.
» Monsieur le Curé tut sein Bestes«, erklärte er mir sanft. »Mehr können wir nicht von ihm erwarten.«
Ich sagte nichts darauf. In meinem Beruf lernt man schnell, daß das Geben keine Grenzen kennt. Guillaume verließ La Praline mit einer kleinen Tüte Florentiner in der Tasche; bevor er um die Ecke der Avenue des Francs Bourgeois bog, sah ich, wie er einen davon seinem Hund gab. Ein Tätscheln, ein Bellen, ein kurzes Wedeln mit dem Stummelschwanz. Wie ich schon sagte, manche Menschen geben, ohne lange zu überlegen.
Das Dorf wird mir immer vertrauter. Auch seine Einwohner. Ich kenne inzwischen immer mehr Gesichter und Namen; die ersten Stränge von kleinen Geschichten, die sich mit der Zeit zu einer uns alle verbindenden Nabelschnurverflechten werden. Das Dorf ist vielschichtiger, als sein einfacher Grundriß zunächst vermuten läßt. Die Rue Principale , von der mehrere Seitenstraßen wie die Finger einer Hand abzweigen: die Avenue des Poètes , die Rue des Francs Bourgeois , die Ruelle des Frères de la Revolution – irgendein Bürgermeister muß eine ausgeprägt republikanische Ader gehabt haben. Der Dorfplatz, die Place Saint-Jérôme , ist der Mittelpunkt, auf dem diese Straßen zusammenlaufen und wo die Kirche weiß und stolz in den Himmel aufragt. Um den Platz herum stehen Lindenbäume, in der Mitte eine mit rotem Kies bedeckte Fläche, auf der die alten Männer an lauen Abenden pétanque spielen. Hinter der Kirche geht es steil den Hügel hinunter in das Gewirr von engen Gassen, das die Einheimischen nur Les Marauds , das Lumpenviertel, nennen. Das ist das Armenviertel von Lansquenet, mit windschiefen Fachwerkhäusern und holprigem Kopfsteinpflaster bis hinunter zum Ufer des Tannes. Die Dorfgrenze jedoch liegt weiter draußen, wo das Sumpfgebiet beginnt. Einige Häuser stehen auf morschen Pfählen über dem Wasser des Flusses, andere schmiegen sich an die steinerne Kaimauer, wo die Feuchtigkeit des brackigen Wassers wie lange, kalte Finger bis zu ihren kleinen, schmalen
Weitere Kostenlose Bücher