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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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hat. »Was würde ich nur ohne dich tun?« Hinter der Theke balle ich vor Wut die Fäuste. Ich kenne diesen Blick – Angst, Schuldgefühle, Verlangen –, ich kenne ihn gut. Es ist der Blick, den ich auf dem Gesicht meiner Mutter gesehen habe, an dem Abend, als der Schwarze Mann auf sieeinredete. Guillaumes Worte – Was würde ich nur ohne dich tun?  – sind dieselben, die sie während jener ganzen schrecklichen Nacht geflüstert hat. Wenn ich abends vor dem Schlafengehen in den Spiegel schaue, wenn ich morgens aufwache, verfolgt von der wachsenden Angst – dem Wissen – der Gewißheit –, daß meine Tochter mir entgleitet, daß ich sie verlieren werde, wenn es mir nicht gelingt, ein Zuhause zu finden … Es ist der Blick, den ich auf meinem eigenen Gesicht sehe.
    Ich nehme Guillaume in den Arm. Im ersten Augenblick wird er ganz steif, er ist es nicht gewohnt, von einer Frau berührt zu werden. Dann entspannt er sich. Ich spüre seinen Kummer, der in Wellen durch seinen Körper geht.
    »Vianne«, sagt er leise. »Vianne.«
    »Es ist in Ordnung, daß Sie solche Gefühle haben«, sage ich bestimmt. »Es ist erlaubt.«
    Charly macht sich mit eifersüchtigem Bellen bemerkbar.
    Heute haben wir fast dreihundert Francs eingenommen. Zum erstenmal genug, um die Kosten zu decken. Ich erzählte es Anouk, als sie aus der Schule kam, aber sie war abwesend und ungewöhnlich still. Ihre Augen wirkten traurig, so dunkel wie ein heraufziehendes Gewitter.
    Ich fragte sie, was los sei.
    »Es ist wegen Jeannot«, sagte sie tonlos. »Seine Mutter hat gesagt, er darf nicht mehr mit mir spielen.«
    Ich erinnerte mich an Jeannot im Wolfskostüm beim Karnevalsumzug, ein schmaler, siebenjähriger Junge mit struppigem Haar und mißtrauischem Blick. Er und Anouk haben gestern abend zusammen auf dem Dorfplatz gespielt, sind unter lautem Kriegsgeheul herumgerannt, bis es dunkel wurde. Seine Mutter ist Joline Drou, eine der beiden Grundschullehrerinnen und eine Busenfreundin von Caroline Clairmont.
    »So?« Neutraler Tonfall. »Was hat sie denn gesagt?«
    »Sie sagt, ich habe einen schlechten Einfluß auf ihn.« Siewarf mir einen grimmigen Blick zu. »Weil wir nicht in die Kirche gehen. Weil du den Laden am Sonntag aufgemacht hast.«
    Du hast am Sonntag aufgemacht.
    Ich schaute sie an. Ich hätte sie gern in die Arme genommen, aber ihre steife, feindselige Haltung ließ mich zögern.
    »Und was sagt Jeannot dazu?« fragte ich so ruhig wie möglich.
    »Er kann nichts machen. Sie ist immer da und paßt auf ihn auf.« Anouks Stimme wurde schrill, und ich hatte das Gefühl, daß sie den Tränen nahe war. »Warum passiert mir immer so was?« fragte sie. »Warum kann ich nie …« Ihr Kinn begann zu zittern.
    »Du hast doch noch andere Freunde.« Es stimmte; gestern abend waren vier oder fünf Kinder zusammen auf dem Dorfplatz herumgetollt.
    »Das sind Jeannots Freunde.« Ich verstand, was sie meinte. Louis Clairmont. Lise Poitou. Seine Freunde. Ohne Jeannot würde die Gruppe sich schon bald verlieren. Plötzlich überkam mich ein tiefes Mitgefühl für meine Tochter, die sich mit unsichtbaren Freunden umgab, um die Welt um sie herum zu bevölkern. Die Vorstellung, daß eine Mutter diesen leeren Raum würde füllen können, war ziemlich egoistisch. Egoistisch und blind.
    »Wir könnten zur Kirche gehen, wenn du willst«, schlug ich sanft vor. »Aber du weißt, daß es nichts ändern würde.«
    Vorwurfsvoll: »Und warum nicht? Die glauben doch auch nicht an Gott. Die gehen auch einfach nur hin.«
    Ich lächelte bitter. Sechs Jahre alt, und immer wieder überrascht sie mich mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe.
    »Das mag ja stimmen«, sagte ich. »Aber möchtest du genauso sein?«
    Ein Achselzucken, zynisch und gleichgültig. Sie trat von einem Fuß auf den anderen, als fürchtete sie eine Strafpredigt. Ich suchte nach Worten, um ihr die Situation zu erklären. Aber alles, was mir einfiel, war das verzweifelteGesicht meiner Mutter, wie sie mich in ihren Armen wiegte und fast grimmig flüsterte: Was würde ich nur ohne dich tun? Was würde ich tun?
    Oh, ich habe ihr das alles schon vor langer Zeit erklärt. Die Heuchelei der Kirche, die Hexenverbrennungen, die Verfolgung von Zigeunern und Andersgläubigen. Sie versteht das alles. Aber dieses Wissen hilft einem nicht unbedingt im Alltag, hilft nicht, die Einsamkeit und den Verlust eines Freundes zu ertragen.
    »Es ist nicht fair.« Sie war immer noch rebellisch, wenn auch nicht mehr ganz so

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