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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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es vor, dem Müßiggang zu frönen und in einem solchen Elend zu leben? Sind sie zu faul? Zu dumm?
    Der rothaarige Mann mit der Angel drehte sich zu mir um, streckte mir abwehrend zwei gespreizte Finger entgegen und widmete sich dann wieder dem Angeln.
    »Hier können Sie nicht bleiben«, rief ich über das Wasser. »Das ist Privatbesitz. Sie müssen weiterziehen.«
    Höhnisches Gelächter von den Booten. Meine Schläfen pochten vor Wut, doch äußerlich blieb ich ruhig.
    »Mit mir können Sie reden«, rief ich. »Ich bin Priester. Vielleicht finden wir gemeinsam eine Lösung.«
    In den Fenstern und Türen der Boote waren mehrere Gesichter aufgetaucht. Ich sah vier Kinder, eine junge Frau mit einem Baby und drei oder vier ältere Leute, in die typischen grauen, farblosen Kleider gehüllt, ihre Blicke herausfordernd und feindselig. Sie warteten darauf, wie der Rothaarige reagieren würde. Ich wandte mich erneut an ihn.
    »He, Sie!«
    Er nahm eine ironisch-ehrerbietige Haltung an.
    »Kommen Sie doch her und reden Sie mit mir. Ich kann Ihnen alles besser erklären, wenn ich nicht über das Wasser hinweg brüllen muß«, rief ich.
    »Erklären Sie nur«, sagte er. Er sprach mit einem so starken Marseiller Akzent, daß ich ihn kaum verstand. »Ich höre Sie gut genug.« Seine Leute auf den anderen Booten stießen sich gegenseitig an und kicherten. Ich wartete geduldig, bis Ruhe einkehrte.
    »Das hier ist ein Privatgrundstück«, wiederholte ich. »Ich fürchte, hier können Sie nicht bleiben. Hier wohnen Leute.« Ich deutete auf die Häuser an der Avenue des Marais . Zugegeben, viele dieser Häuser stehen leer und sind halb verfallen, aber einige sind immer noch bewohnt.
    Der Rothaarige warf mir einen verächtlichen Blick zu.
    »Hier wohnen auch Leute«, sagte er und deutete auf die Boote.
    »Das ist mir klar, aber trotzdem –« Er fiel mir ins Wort.
    »Keine Sorge. Wir bleiben nicht lange.« Sein Ton war bestimmt. »Wir müssen die Boote reparieren, unsere Vorräte aufstocken. Das können wir nicht draußen in der freien Landschaft. Wir bleiben zwei Wochen, höchstens drei. Damit werden Sie ja wohl leben können, oder?«
    »In einem größeren Dorf …« Seine Unverschämtheit machte mich rasend, doch ich blieb ruhig. »Oder vielleicht in einer Stadt wie Agen könnten Sie …«
    Knapp: »Zwecklos. Von da kommen wir gerade.«
    Das konnte ich mir vorstellen. In Agen machen sie mit Vagabunden kurzen Prozeß. Wenn wir nur hier in Lansquenet unsere eigene Polizei hätten.
    »Ich habe Probleme mit meinem Motor. Seit einigen Kilometern verliere ich Öl. Ich kann erst weiterfahren, wenn ich ihn repariert hab.«
    Ich straffte die Schultern.
    »Ich glaube kaum, daß Sie hier finden werden, was Sie suchen«, erklärte ich.
    »Jeder hat das Recht, zu glauben, was er will«, sagte er wegwerfend, beinahe belustigt. Eine der alten Frauen begann zu kichern. »Selbst ein Priester.« Noch mehr Gelächter. Ich wahrte meine Würde. Diese Leute sind es nicht wert, daß ich mich über sie ärgere.
    Ich wandte mich zum Gehen.
    »Sieh mal einer an, Monsieur le Curé !« sagte eine Stimme hinter mir, und unwillkürlich zuckte ich zusammen. Armande Voizin stieß ein gackerndes Lachen aus. »Nervös, was?« sagte sie boshaft. »Und zu Recht. Das hier ist nicht Ihr Revier, nicht wahr? In welcher Mission sind Sie denn diesmal unterwegs? Wollen Sie etwa die Heiden bekehren?«
    »Madame.« Trotz ihrer Frechheit grüßte ich sie höflich. »Ich hoffe, Sie erfreuen sich guter Gesundheit.«
    »Ach, tatsächlich?« Ihre schwarzen Augen funkeltenspöttisch. »Und ich dachte, Sie könnten es nicht erwarten, mir die letzte Ölung zu geben.«
    »Keineswegs, Madame«, erwiderte ich kühl.
    »Das ist gut. Weil dieses alte Lämmchen nämlich niemals zur Herde zurückkehren wird«, erklärte sie. »Für Sie bin ich sowieso zu zäh. Ich weiß noch gut, wie Ihre Mutter gesagt hat –«
    Ich unterbrach sie schärfer, als ich beabsichtigt hatte.
    »Ich fürchte, ich habe heute keine Zeit zum Plaudern, Madame. Ich muß mich um diese Leute« – ich deutete auf die Zigeuner – »kümmern, bevor die Situation außer Kontrolle gerät. Ich muß die Interessen meiner Gemeinde schützen.«
    »Was sind Sie doch für ein Schwätzer«, bemerkte Armande gelangweilt. » Die Interessen meiner Gemeinde . Ich erinnere mich noch an die Zeit, als Sie ein kleiner Junge waren und in Les Marauds Indianer gespielt haben. Was haben Sie in der Stadt gelernt, außer sich wichtig zu

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