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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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sie Pantoufle gesehen.
    »Lassen Sie es Reynaud nicht wissen«, sagte sie mit verrückt leuchtenden, ernsten Augen. »Sie wissen doch, wer er ist, nicht wahr?«
    Ich starrte sie an. Ich muß geahnt haben, was sie meinte. Oder vielleicht waren wir uns einmal kurz im Traum begegnet, in einer unserer Nächte auf der Flucht.
    » Er ist der Schwarze Mann .«
    Reynaud. Wie eine Unheil verheißende Tarot-Karte. Immer und immer wieder. Gelächter auf den Rängen.
    Lange nachdem ich Anouk zu Bett gebracht hatte, holte ich die Karten meiner Mutter hervor, zum erstenmal seit ihrem Tod. Ich bewahre sie in einer Schachtel aus Sandelholz auf; sie sind vom vielen Benutzen ganz weich, und ihr Duft ist voller Erinnerungen an sie. Beinahe hätte ich sie gleich wieder weggepackt, verwirrt durch die Flut der Erinnerungen, die Gerüche mit sich bringen. New York. Von Dampf umhüllte Würstchenstände. Das Café de la Paix mit seinen tadellosen Kellnern. Eine Nonne, die vor Notre-Dame ein Eis leckt. Billige Hotelzimmer, mürrische Portiers, mißtrauische gendarmes , neugierige Touristen. Und über allem der Schatten der namenlosen, unerbittlichen Bedrohung, vor der wir ständig auf der Flucht waren.
    Ich bin nicht meine Mutter. Ich bin kein Flüchtling. Und doch ist das Bedürfnis zu sehen, zu wissen , so stark, daß ich die Karten aus ihrer Schachtel nehme und auslege, genauso wie sie es damals auf ihrem Bett getan hat. Ein Blick über meine Schulter, um sicherzugehen, daß Anouk schläft, ich möchte nicht, daß sie meine Unruhe spürt, dann mische ich, hebe ab, mische erneut, hebe ab, bis ich vier Karten habe.
    Zehn Schwerter, der Tod. Drei Schwerter, der Tod. Zwei Schwerter, der Tod. Der Wagen. Der Tod .
    Der Eremit. Der Turm. Der Wagen. Der Tod.
    Es sind die Karten meiner Mutter. Das hat nichts mit mir zu tun, sage ich mir, obwohl der Eremit leicht zu deuten ist. Aber der Turm? Der Wagen?
    Der Tod?
    Die Karte des Todes, sagt die Stimme meiner Mutter in mir, muß nicht immer den physischen Tod bedeuten, sie kann auch für das Ende eines Lebensabschnitts stehen. Für sich drehende Winde. Könnte es das sein, was sie mir sagt?
    Ich glaube nicht an Wahrsagerei. Nicht so, wie sie es tat, als eine Möglichkeit, die zufälligen Muster unseres Lebensweges zu erklären. Nicht als Vorwand für Untätigkeit, als Krücke in schwierigen Situationen, als Rationalisierung des inneren Chaos. Ich höre ihre Stimme, und sie klingt genauso wie damals auf dem Schiff, als ihre Stärke in Sturheit umschlug, ihr Humor in übermütige Verzweiflung.
    Wie wär’s mit Disneyland? Was meinst du? Die Florida Keys? Die Everglades? Es gibt so vieles zu sehen in der Neuen Welt, so vieles, von dem wir bisher nicht einmal zu träumen gewagt haben. Ist es das? Was meinst du? Ist es das, was die Karten uns sagen wollen?
    Inzwischen war der Tod auf jeder Karte, der Tod und der Schwarze Mann, der mit der Zeit dieselbe Bedeutung angenommen hatte. Wir flohen vor ihm, und er verfolgte uns, in Sandelholz verpackt.
    Um mich dagegen zu schützen, las ich Jung und Hermann Hesse und lernte etwas über das kollektive Unbewußte. Wahrsagerei ist eine Methode, uns einzugestehen, was wir bereits wissen. Wovor wir uns fürchten. Es gibt keine Dämonen, sondern verschiedene Archetypen, die in jeder Kultur gleich sind. Die Angst vor Verlust – der Tod. Die Furcht vor Vertreibung – der Turm. Die Angst vor der Vergänglichkeit – der Wagen.
    Und dennoch ist meine Mutter gestorben.
    Ich legte die Karten liebevoll zurück in ihre duftendeSchachtel. Adieu, Mutter. Hier hört unsere Reise auf. Hier werden wir bleiben, um uns dem zu stellen, was der Wind uns bringt. Ich werde die Karten nicht noch einmal befragen.
    Sonntag, 23. Februar
    Vergib mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich weiß, daß Sie mich hören können, Vater, und es gibt niemand anderen, bei dem ich zu beichten wagen würde. Auf keinen Fall würde ich den Bischof von Bordeaux zu meinem Beichtvater wählen, der so weit weg und sicher auf seinem Bischofsstuhl sitzt. Und die Kirche wirkt so leer. Ich komme mir vor wie ein Narr, wenn ich vor dem Altar knie und zu unserem Herrn in seinem Blattgold und seiner Dornenkrone aufblicke – das Gold ist durch den Kerzenrauch geschwärzt, was Ihm einen verschlagenen, heimlichtuerischen Blick verleiht –, und die Gebete, die früher so segensreich und beglückend für mich waren, sind nun eine Last, ein Schrei am Fuß eines kahlen Berges, von dem jeden Augenblick eine Lawine

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