Chocolat
tun?«
Ich starrte sie wütend an. Sie ist die einzige in Lansquenet, die sich einen Spaß daraus macht, mich an Dinge zu erinnern, die längst vergessen sein sollten. Wenn sie stirbt, wird sie diese Erinnerungen mit ins Grab nehmen, und ich wäre gewiß nicht traurig darüber.
» Ihnen mag die Vorstellung, daß die Zigeuner Les Marauds eines Tages übernehmen könnten, vielleicht Vergnügen bereiten«, sagte ich scharf, »aber andere Leute – unter ihnen Ihre Tochter – wissen ganz genau, daß sie, wenn sie erst einmal den Fuß in der Tür haben …«
Armande schnaubte verächtlich.
»Sie redet sogar schon wie Sie«, sagte sie. »Kanzel-Klischees und nationalistische Platitüden. Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Leute irgendwelchen Schaden anrichten. Warum sind Sie so versessen darauf, einen Kreuzzug gegen sie zu unternehmen, wenn sie sowieso bald wieder weiterziehen?«
Ich zuckte die Achseln.
»Offenbar wollen Sie nicht verstehen«, sagte ich knapp.
»Nun, ich habe Roux da drüben gesagt« – sie deutete verschmitzt auf den Mann auf dem schwarzen Hausboot –, »ich habe ihm gesagt, daß er und seine Freunde hierbleiben können, bis sie ihren Motor repariert und ihre Vorräte aufgestockt haben.« Sie schaute mich triumphierend an. »Sie können sie also kaum wegen unbefugten Betretens von Privatbesitz belangen. Sie haben vor meinem Haus angelegt, und zwar mit meinem Segen.« Das letzte Wort sprach sie mit besonderer Betonung aus, wie um mich zu verspotten.
»Dasselbe gilt für ihre Freunde«, fügte sie hinzu, »sobald sie eintreffen.« Sie warf mir noch einen unverschämten Blick zu. » Alle ihre Freunde.«
Nun, ich hätte damit rechnen müssen. Es war zu erwarten, daß sie sich so verhalten würde, und wenn sie es nur tut, um mich zu provozieren. Sie genießt den Ruf, den ihr Verhalten ihr einbringt; sie weiß genau, daß sie als älteste Bewohnerin des Dorfes eine gewisse Narrenfreiheit besitzt. Es hat keinen Zweck, sich mit ihr auseinanderzusetzen, mon père . Das wissen wir beide. Sie hätte nur ihren Spaß an einem Streit, genauso wie es ihr Spaß macht, mit diesen Leuten zu verkehren, sich ihre Geschichten anzuhören, sich von ihrem Leben erzählen zu lassen. Kein Wunder, daß sie sie alle schon mit Namen kennt. Ich werde ihr nicht die Genugtuung bereiten und diese Leute darum bitten weiterzuziehen. Nein, ich muß die Sache anders lösen.
Eines habe ich zumindest von Armande erfahren. Es werden noch mehr kommen. Wie viele, bleibt abzuwarten. Aber es ist genau so, wie ich befürchtet hatte. Heute sind es drei Boote. Wie viele werden es morgen sein?
Auf dem Weg hierher habe ich Clairmont einen Besuch abgestattet. Er wird dafür sorgen, daß es sich im Dorf herumspricht. Ich rechne mit leichtem Widerstand – Armande hat immer noch Freunde –, bei Narcisse müssen wir vielleicht ein wenig nachhelfen. Aber im großen und ganzen gehe ich davon aus, daß die Leute einsichtig sein werden.Schließlich genieße ich im Dorf ein gewisses Ansehen. Meine Meinung ist etwas wert. Mit Muscat habe ich auch gesprochen. Er sieht die meisten Leute in seinem Café. Außerdem ist er Vorsitzender des Gemeinderats. Trotz seiner Fehler ein rechtschaffener Mann, ein braver Kirchgänger. Und sollte eine starke Hand gebraucht werden – natürlich verabscheuen wir alle Gewalt, aber bei diesen Leuten muß man mit allem rechnen –, nun, da bin ich sicher, daß Muscat sich nicht lange bitten lassen würde.
Armande hat es einen Kreuzzug genannt. Das war als Beleidigung gemeint, ich weiß, aber dennoch … Ich spüre, daß der Gedanke an diesen Konflikt eine freudige Erregung in mir auslöst. Sollte das die Aufgabe sein, für die Gott mich ausersehen hat?
Darum bin ich nach Lansquenet gekommen, Vater. Um für meine Leute zu kämpfen. Um sie vor der Versuchung zu bewahren. Und wenn Vianne Rocher die Macht der Kirche erkennt – meinen Einfluß auf jede einzelne Seele in dieser Gemeinde –, dann wird sie begreifen, daß sie auf verlorenem Posten steht. Was auch immer sie sich erhoffen, was für Ziele sie auch verfolgen mag. Sie wird einsehen, daß sie hier nicht bleiben kann. Sie hat keine Chance zu gewinnen.
Am Ende werde ich triumphieren.
Montag, 24. Februar
Caroline Clairmont kam gleich nach der Messe in den Laden. Ihr Sohn war mit dabei, den Ranzen auf dem Rücken, ein großer Junge mit einem blassen, ausdruckslosen Gesicht. Sie hatte ein Bündel gelber, handbeschriebener Karten dabei.
Ich
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