Chocolat
verbreiten, aber weit genug entfernt, um ihre Waren nicht zu verderben. Und seit sie die Hocker angeschafft hat, wirkt der Laden mit all seinen Torten und Kuchen unter gläsernen Hauben und den Pralinen und Trüffeln in Kristallschalen eher wie ein Café. Anmanchen Tagen sehe ich zehn und mehr Leute da drinnen, die herumstehen oder sich an die Theke lehnen und plaudern. Sonntags und mittwochs nachmittags duftet es auf dem ganzen Dorfplatz nach Bäckerei; dann steht sie in der Tür, die Arme bis zu den Ellbogen weiß vom Mehl, und spricht einfach irgendwelche Passanten an. Ich kann mich nur wundern, wie viele Leute sie bereits mit Namen kennt – ich selbst habe ein halbes Jahr gebraucht, bis ich alle Mitglieder meiner Gemeinde kannte –, und sie scheint stets irgendeine Frage oder eine Bemerkung zu ihren Sorgen und Problemen parat zu haben. Blaireaus Arthritis. Lamberts Sohn, der beim Militär ist. Narcisse und seine preisgekrönten Orchideen. Sie kennt sogar den Hund von Duplessis mit Namen. Oh, sie ist verschlagen. Man kann sie unmöglich übersehen. Man muß schon regelrecht flegelhaft sein, um nicht zu reagieren. Selbst ich – selbst ich muß lächeln und nicken, obwohl ich innerlich koche. Ihre Tochter ist genauso, treibt sich mit einer Bande älterer Jungs und Mädchen in Les Marauds herum. Die meisten sind acht oder neun Jahre alt; sie sind immer nett zu ihr, behandeln sie wie eine kleine Schwester, wie ein Maskottchen. Ständig sind sie zusammen, rennen und schreien herum; sie breiten die Arme aus und tun so, als seien sie Jagdbomber, die sich gegenseitig verfolgen und abschießen. Jean Drou ist auch immer dabei, obwohl seine Mutter es mißbilligt. Ein- oder zweimal hat sie ihm den Umgang mit ihnen verboten, aber er wird von Tag zu Tag aufsässiger und klettert aus dem Fenster seines Zimmers, wenn sie ihm Stubenarrest erteilt.
Aber ich habe noch ernstere Sorgen, mon père , als das ungehörige Benehmen von ein paar ungezogenen Gören. Als ich heute vor der Messe durch Les Marauds ging, habe ich am Ufer des Tannes ein Hausboot gesehen, eins von der Sorte, die Ihnen und mir wohlbekannt ist. Ein heruntergekommener Kahn, dessen grüne Farbe überall abblättert, mit einem blechernen Schornstein, aus dem giftiger, schwarzer Rauch quoll, einem Dach, so rostig wie die Dächer auf denWellblechhütten in den bidonvilles von Marseille. Und ich weiß genau, was das zu bedeuten hat. Was auf uns zukommt. Der erste Löwenzahn, der im Frühling aus der feuchten Erde am Straßenrand sprießt. Jedes Jahr versuchen sie es wieder, kommen flußaufwärts aus den Vorstädten und Barackensiedlungen, aus Algerien und Marokko. Auf der Suche nach Arbeit. Auf der Suche nach einem Lagerplatz, einem Ort, an dem sie sich vermehren können … In meiner Predigt heute morgen habe ich gegen sie gewettert, aber ich weiß, daß einige Gemeindemitglieder – unter anderen Narcisse – sie trotz meiner Warnungen willkommen heißen werden. Sie sind Vagabunden, vulgäre Menschen ohne moralische Werte. Sie sind Zigeuner, Verbreiter von Krankheiten, Diebe, Lügner, Mörder, wenn man sie nicht aufhält. Wenn wir es zulassen, daß sie bleiben, werden sie alles zerstören, wofür wir gearbeitet haben, Vater. All unsere Erziehung. Ihre Kinder werden mit den unsrigen spielen, bis alles verdorben, beschmutzt, ruiniert ist. Sie werden die Seelen unserer Kinder stehlen. Sie lehren, die Kirche zu mißachten und zu hassen. Sie werden zu Müßiggang und Verantwortungslosigkeit anstiften. Sie zu Verbrechen und Drogenmißbrauch verführen. Haben sie etwa schon vergessen, was in jenem Sommer geschah? Sind sie dumm genug anzunehmen, daß so etwas nicht wieder passieren kann?
Heute nachmittag bin ich zu dem Hausboot hinuntergegangen. Es waren bereits zwei weitere dazugekommen, ein rotes und ein schwarzes. Es hatte aufgehört zu regnen, und zwischen den beiden neuen Booten war eine Wäscheleine gespannt, an der Kinderwäsche hing. An Deck des schwarzen Bootes saß ein Mann mit dem Rücken zu mir und angelte. Langes, rotes Haar, mit einem Halstuch zusammengebunden, die nackten Arme und Schultern über und über mit Henna bemalt. Eine ganze Weile habe ich dagestanden und mir ihre erbärmlichen Behausungen angesehen, ihre provozierende Armut. Was versprechen diese Leute sich davon, daß sie so leben? Wir sind ein reichesLand. Eine europäische Großmacht. Diese Leute könnten sich Arbeit suchen, nützliche Arbeit, anständige Wohnungen … Warum ziehen sie
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