Chocolat
flackernden Feuers um sie herum. Als wir am Café de la République vorbeikamen, fiel mir auf, daß die Tür einen Spalt weit offenstand, obwohl im Café kein Licht brannte. Dann wurde sie leise geschlossen, wie wenn jemand eben noch die Straße beobachtet hätte. Es hätte aber auch der Wind gewesen sein können.
Sonntag, 2. März
Der März hat dem Regen ein Ende gemacht. Der Himmel ist jetzt klar, ein leuchtendes Blau zwischen schnell dahintreibenden Wolken, und über Nacht ist ein kräftiger Wind aufgekommen, der in den Ecken pfeift und an den Fenstern rüttelt. Die Kirchenglocken läuten wie wild, als hätten auch sie die plötzliche Veränderung bemerkt. Die Wetterfahne dreht sich hektisch hin und her, ihr rostiges Scharnier quietscht unablässig. In ihrem Zimmer singt Anouk beim Spielen ein Lied vom Wind.
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent
V’là l’bon vent, ma mie m’appelle
V’là l’bon vent, v’là l’joli vent
V’là l’bon vent, ma mie m’attend.
Märzwinde sind schlechte Winde, pflegte meine Mutter zu sagen. Aber der Wind tut gut, er riecht nach Frühling und Ozon und Meersalz. Der März ist ein guter Monat, er treibt den Februar durch die Hintertür hinaus, während vor dem Haus schon der Frühling wartet. Ein guter Monat für Veränderungen.
Fünf Minuten lang stehe ich mit ausgebreiteten Armen allein auf dem Dorfplatz und lasse mir den Wind durch die Haare gehen. Ich habe vergessen, mir eine Jacke anzuziehen, und der Wind bauscht meinen roten Rock. Ich bin ein Drache, spüre den Wind, lasse mich von ihm über den Kirchturm hinweg, über mich selbst hinaus tragen. Ich verliere kurz die Orientierung, sehe die rote Gestalt dort unten auf dem Dorfplatz, zugleich hier und dort – dann bin ich wieder ganz bei mir. Außer Atem entdecke ich Reynauds Gesicht ganz oben an einem Fenster, seine dunklen Augen, die mich voller Abscheu anstarren. Er wirkt bleich, trotz des hellen Sonnenscheins. Seine Hände umklammern den Fenstersims, und seine Knöchel sind ebenso weiß wie sein Gesicht.
Der Wind ist mir in den Kopf gestiegen. Ich winke Reynaud freundlich zu und gehe zurück in meinen Laden. Ich weiß, er wird es als eine herausfordernde Geste auffassen, aber heute morgen ist mir das egal. Der Wind hat meine Ängste fortgeweht. Ich winke dem Schwarzen Mann in seinem Turm zu, und der Wind zupft spielerisch an meinem Rock. Ich bin in Hochstimmung. Voller freudiger Erwartung.
Die Stimmung scheint auch die Einwohner von Lansquenet erfaßt zu haben. Ich beobachte sie auf ihrem Weg zur Kirche – die Kinder rennen mit ausgebreiteten Armen durch den Wind, die Hunde bellen aus Übermut, und selbst die Gesichter der Erwachsenen wirken trotz der vom Wind tränenden Augen fröhlich. Caroline Clairmont am Arm ihres Sohnes mit neuem Hut und Mantel. Luc schaut kurz zu mir herüber, lächelt mir verstohlen hinter vorgehaltener Hand zu. Joséphine und Paul-Marie Muscat Arm in Arm wie ein Liebespaar, obwohl ihr Gesicht unter der braunenBaskenmütze verkniffen und trotzig wirkt. Ihr Mann starrt mich durch das Schaufenster wütend an und beschleunigt seinen Schritt. Ich entdecke Guillaume, heute ohne Charly, die bunte Plastikleine baumelt sinnlos an seinem Arm, und er wirkt seltsam verloren ohne seinen Hund. Anouk schaut mich an und nickt. Narcisse bleibt stehen, um die Geranien vor dem Laden zu begutachten, reibt ein Blatt zwischen den Fingern, schnuppert an dem grünen Saft. Trotz seiner ruppigen Art ist er ein Leckermaul, und ich bin mir sicher, daß er nach der Messe auf eine Tasse Mokka und ein paar Trüffel hereinkommen wird.
Der Klang der Glocken geht in ein tiefes, eindringliches Döhnen über – dong! dong! –, während die Leute auf die offene Kirchentür zuströmen. Vor dem Portal steht Reynaud in einer weißen Soutane, die Hände gefaltet, mit eifriger Miene, um sie zu begrüßen. Ich habe den Eindruck, daß er zu mir herüberschaut, ein kurzer Blick über den Dorfplatz, ein leichtes Straffen der Schultern unter der Soutane – aber ich bin mir nicht sicher.
Mit einer Tasse Schokolade in der Hand, mache ich es mir hinter der Theke gemütlich und warte auf das Ende der Messe.
Der Gottesdienst hat diesmal länger gedauert als gewöhnlich. Ich nehme an, daß Reynauds Erwartungen an seine Gemeinde in der vorösterlichen Zeit besonders groß sind. Erst nach mehr als anderthalb Stunden kamen die ersten Leute aus der Kirche, die Köpfe gegen den Wind gesenkt, der frech an Tüchern und
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