Chocolat
Alptraum einer anderen Frau, und daß mir das niemals zustoßen würde …«
Ich nahm ihre Hand. Sie war kalt und zitterte. Ein Fingernagel war tief eingerissen, und ihre Handfläche war blutverschmiert.
»Ich versuche immer wieder, mich zu erinnern, wie es war, als ich ihn noch geliebt habe. Aber da ist nichts. Ein großes schwarzes Loch. An alles andere erinnere ich mich – an das erste Mal, als er mich geschlagen hat, das weiß ich noch ganz genau –, aber man sollte meinen, daß es selbst bei Paul-Marie etwas geben müßte, an das ich mich gern erinnere. Irgend etwas, das alles rechtfertigen würde. Aber es ist alles nur Zeitverschwendung gewesen.«
Sie brach abrupt ab und schaute auf ihre Uhr.
»Ich hab viel zuviel geredet«, sagte sie überrascht. »Wenn ich den Bus kriegen will, hab ich keine Zeit mehr für eine Schokolade.«
Ich schaute sie an.
»Trinken Sie, und lassen Sie den Bus fahren«, sagte ich. »Ich spendiere Ihnen einen chocolat espresso . Ich wünschte nur, es wäre Champagner.«
»Ich muß gehen«, sagte sie störrisch. Ihre Fäuste bohrten sich wieder in ihre Magengrube. Sie senkte den Kopf wie ein angriffslustiger Stier.
»Nein.« Ich sah sie an. »Sie müssen bleiben. Sie müssen ihm offen die Stirn bieten. Sonst hätten Sie auch gleich bei ihm bleiben können.«
Einen Moment lang hielt sie meinem Blick trotzig stand.
»Das kann ich nicht.« In ihrer Stimme lag ein verzweifelter Unterton. »Das stehe ich nicht durch. Er wird mich beschimpfen, mir jedes Wort im Mund herumdrehen –«
»Sie haben Freunde hier im Dorf«, erwiderte ich sanft. »Und Sie sind stark, auch wenn Sie es noch nicht wissen.«
Und dann setzte Joséphine sich auf einen meiner roten Barhocker, legte ihren Kopf auf die Theke und begann leise zu weinen.
Ich ließ sie gewähren. Ich sagte ihr nicht, daß alles gut werden würde. Ich versuchte nicht, sie zu trösten. Manchmal ist es besser, die Dinge nicht zu beeinflussen, Trauer und Leid ihren Lauf nehmen zu lassen. Statt dessen ging ich in die Küche und bereitete in aller Ruhe chocolat espresso für uns beide zu. Bis ich die Tassen gefüllt, Cognac und Schokostreusel hinzugefügt, einen Zuckerwürfel auf jede Untertasse gelegt hatte und die beiden Tassen auf einem gelben Tablett hinaustrug, hatte sie sich beruhigt. Ich weiß, es ist ein schwacher Zauber, aber manchmal wirkt er.
»Warum haben Sie es sich anders überlegt?« fragte ich, als sie ihre Tasse halb ausgetrunken hatte. »Als wir uns das letzte Mal unterhielten, hatte ich nicht den Eindruck, daß Sie vorhatten, Paul zu verlassen.«
Sie zuckte die Achseln und wich meinem Blick aus.
»Hat er Sie wieder geschlagen?«
Diesmal wirkte sie überrascht. Sie fuhr sich mit der Hand an die Stirn und befühlte die feuerrote Strieme.
»Nein.«
»Warum dann?«
Sie wandte den Blick wieder ab. Mit den Fingerspitzen berührte sie die Tasse, wie um sich zu vergewissern, daß sie wirklich existierte.
»Ich weiß nicht.«
Es ist eine offensichtliche Lüge. Automatisch versuche ich, ihre Gedanken zu erreichen, die gerade noch so offen vor mir gelegen hatten. Ich muß wissen, ob ich sie dazu gebracht habe, ob ich sie entgegen meiner guten Vorsätze dazu gezwungen habe. Doch im Moment sind ihre Gedanken formlos, vernebelt. Ich sehe nichts als Dunkelheit.
Es hat keinen Zweck, sie zu bedrängen. Joséphine ist starrköpfig. Und sie ist eine schlechte Lügnerin. Aber etwas in ihr sträubt sich dagegen, sich hetzen zu lassen. Irgendwann wird sie es mir sagen. Wenn sie will.
Es wurde Abend, bis Muscat sie suchen kam. Inzwischen hatten wir Anouks Bett für sie bezogen – Anouk wird vorerst in meinem Zimmer auf dem Klappbett schlafen. Sie nimmt Joséphines Anwesenheit so gelassen hin wie so vieles andere auch. Ich wußte, daß es meiner Tochter einen Moment lang schwerfiel, ihr erstes eigenes Zimmer zu opfern, doch ich versprach ihr, daß es nur für kurze Zeit sein würde.
»Ich habe mir etwas überlegt«, sagte ich ihr. »Wir könnten den Dachboden für dich herrichten, mit einer Leiter zum Hinaufklettern und einer Falltür und kleinen, runden Dachfenstern. Was hältst du davon?«
Die Vorstellung ist zugleich verlockend und gefährlich. Sie bedeutet, daß wir noch lange hierbleiben werden.
»Kann ich von dort oben aus die Sterne sehen?« fragte Anouk begierig.
»Natürlich.«
»In Ordnung!« sagte Anouk und lief zusammen mit Pantoufle die Treppe hinauf.
Gemeinsam aßen wir in der überfüllten Küche zu
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