Chocolat
an.
»Glauben Sie mir«, sagte ich, »ich weiß, wovon ich rede.«
Es stimmt nicht ganz. Jeder Ort hat seinen Charakter, und an einen Ort zurückzukehren, an dem man einmal gelebt hat, ist wie einen alten Freund nach langer Zeit wiederzusehen. Aber die Menschen fangen an, überall gleich auszusehen; dieselben Gesichter tauchen in Städten auf, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt liegen, dieselben Gesichtsausdrücke. Das kühle, feindselige Starren des Beamten. Der neugierige Blick der Bauern. Die trägen, gelangweilten Gesichter der Touristen. Dieselben Liebhaber, Mütter, Bettler, Krüppel, fliegenden Händler, Jogger, Kinder, Polizisten, Taxifahrer, Zuhälter. Nach einer Weile wird man regelrecht paranoid, es ist, als würden diese Menschen einen heimlich von Stadt zu Stadt verfolgen, die Kleider und Gesichter wechseln, aber im Grunde unverändert bleiben, ihren eintönigen Beschäftigungen nachgehen, während sie uns, die Eindringlinge, ständig halb im Auge behalten. Zu Anfang kommt man sich irgendwie überlegen vor. Wir sind ein besonderer Schlag, wir Unsteten. Wir haben so viel mehr gesehen, so viel mehr erlebt als die anderen. Die anderen, die es zufrieden sind, ihr erbärmliches Leben in einer endlosen Abfolge von Schlafen-Arbeiten-Schlafen dahinplätschern zu lassen. Wir blicken verächtlich herab auf ihre gepflegten Gärten, ihre eintönigen Reihenhäuser in den Vorstädten, ihre bescheidenen Träume. Dann, nach einer Weile, kommt der Neid. Beim erstenmal ist es beinahe komisch; ein plötzlicher Stich, der beinahe augenblicklich vergessen ist. Eine Frau im Park, die sich über ein Baby im Kinderwagen beugt, beider Gesichter strahlen, aber nicht vom Sonnenschein. Dann kommt das zweite Mal, dann das dritte; zwei junge Leute Arm in Arm am Strand; eine Gruppe von jungen Sekretärinnen in ihrer Mittagspause, die bei Kaffee und Croissants miteinander scherzen undlachen … Mit der Zeit wird es zu einem Schmerz, der einen überall begleitet. Nein, Orte verlieren ihre Identität nicht, egal, wie weit man herumkommt. Es ist das Herz, das mit der Zeit verkümmert. Manchmal wirkt das Gesicht morgens im Spiegel des Hotelzimmers verschwommen, wie verblaßt durch die vielen flüchtigen Blicke. Bis zehn sind die Betten gemacht, die Teppiche gesaugt. Die Namen auf den Hotelanmeldungen ändern sich von Ort zu Ort. Wir hinterlassen keine Spur auf unserer Reise. Wie Geister haben wir keinen Schatten.
Ein gebieterisches Klopfen an der Tür riß mich aus meinen Gedanken. Joséphine sprang auf, die Augen angstvoll geweitet, die Fäuste gegen die Rippen gepreßt. Wir hatten es die ganze Zeit erwartet; das Abendessen, die Unterhaltung waren ein Versuch gewesen, Normalität vorzutäuschen. Ich stand auf.
»Keine Sorge«, sagte ich zu Joséphine. »Ich werde ihn nicht reinlassen.«
In ihren Augen lag Panik.
»Ich will nicht mit ihm reden«, sagte sie leise. »Ich kann nicht.«
»Vielleicht werden Sie es müssen«, erwiderte ich. »Aber machen Sie sich keine Sorgen. Er kann nicht durch Wände gehen.«
Sie lächelte schwach.
»Ich will noch nicht mal seine Stimme hören«, sagte sie. »Sie wissen nicht, wie er ist. Er wird sagen –«
Ich ging in den unbeleuchteten Laden.
»Ich weiß genau, wie er ist«, sagte ich in entschlossenem Ton. »Und was immer Sie denken mögen, er ist nicht einzigartig. Das Gute am Reisen ist, daß man nach einer Weile feststellt, daß die Menschen gar nicht so unterschiedlich sind, wo immer man auch hinkommt.«
»Ich hasse diese Szenen«, murmelte Joséphine, als ich das Licht im Laden einschaltete. »Ich hasse Geschrei.«
»Es wird bald vorbei sein«, sagte ich, als das ungeduldige Klopfen wieder anfing. »Anouk soll Ihnen eine Tasse Schokolade machen.«
Die Tür hat eine Kette. An die Sicherheitsvorkehrungen in der Stadt gewöhnt, habe ich sie angebracht, als wir hierherzogen, doch bis jetzt haben wir sie nicht gebraucht. Im Türspalt sehe ich Muscats wutverzerrtes Gesicht.
»Ist meine Frau hier?« Seine Stimme klingt belegt.
»Ja.« Ich sehe keinen Grund, mich auf Ausflüchte zu verlegen. Es ist besser, ihn gleich in seine Schranken zu verweisen. »Ich fürchte, sie hat Sie verlassen, Monsieur Muscat. Ich habe ihr angeboten, bei mir zu wohnen, bis alles geregelt ist. Es schien mir das Beste.«
Ich bemühe mich um einen neutralen, höflichen Ton. Ich kenne seine Sorte. Wir sind ihnen tausendmal begegnet, meine Mutter und ich, an tausend verschiedenen Orten. Er starrt mich
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