Chocolat
Abend. Der Küchentisch stammt noch aus den Zeiten, als der Laden eine Bäckerei war, ein massiver, schwerer Tisch aus Kiefernholz, übersät mit einem Netzwerk von feinen, weißen Linien, Messerritzen, gefüllt mit uralten, zementharten Teigresten, die der Tischplatte eine glatte, marmorartige Oberfläche verleihen. Die Teller sind kunterbunt zusammengewürfelt; einer ist grün, einer weiß, Anouks geblümt. Auchdie Gläser sind alle verschieden; ein hohes, schlankes, ein schweres, breites und eines, das immer noch den Aufdruck Moutarde Amora trägt. Und dennoch ist es das erste Mal, daß wir solche Dinge tatsächlich besitzen . Bisher haben wir Hotelgeschirr benutzt, Plastikbecher und Plastikbesteck. Selbst in Nizza, wo wir über ein Jahr gelebt haben, waren Geschirr und Mobiliar gemietet, gehörten zur Einrichtung des Ladens. Besitz ist immer noch etwas Neues für uns, etwas Kostbares, Berauschendes. Ich beneide den Tisch um seine Narben, die Brandflecken, die von den heißen Backformen herrühren. Ich beneide ihn um sein ruhiges Zeitgefühl, und ich wünschte, ich könnte sagen: Das habe ich vor fünf Jahren getan. Diesen Fleck habe ich gemacht, diesen Ring dort, der von einer nassen Kaffeetasse stammt, diese kleine, von einer Zigarette verursachte Brandstelle, diese Kerben an der Tischkante. Dort hat Anouk ihre Initialen in das Tischbein geritzt, als sie sechs Jahre alt war. Das da hab ich vor sieben Jahren an einem warmen Sommertag mit einem Schnitzmesser gemacht. Weißt du noch? Erinnerst du dich noch an den Sommer, als der Fluß ausgetrocknet war? Weißt du noch?
Ich beneide den Tisch um seine Ruhe. Er ist schon lange an diesem Ort. Er gehört hierher.
Joséphine half mir beim Zubereiten des Abendessens; einen Salat aus grünen Bohnen und Tomaten, rote und schwarze Oliven vom Wochenmarkt, Walnußbrot, frisches Basilikum von Narcisse, Ziegenkäse, Rotwein aus Bordeaux. Wir unterhielten uns beim Essen, sprachen jedoch nicht über Paul-Marie Muscat. Ich erzählte ihr von uns, von Anouk und mir, von den Orten, in denen wir gelebt hatten, von der chocolaterie in Nizza, von der Zeit in New York, kurz nach Anouks Geburt, und von der Zeit davor, von Paris und Neapel, von all den provisorischen Quartieren, in denen meine Mutter und ich uns auf unserer endlosen Flucht kreuz und quer durch die Welt häuslich eingerichtet hatten. Heuteabend will ich mich nur an die guten Dinge erinnern, an all die guten, lustigen Erlebnisse. Es liegen schon genug traurigen Gedanken in der Luft. Ich stelle eine weiße Kerze auf den Tisch, um schlechte Einflüsse abzuwehren. Ihr Duft hat etwas Romantisches, etwas Tröstliches. Ich erzähle Joséphine von dem kleinen Kanal in Ourcq, vom Pantheon, von der Place des Artistes , der Prachtstraße Unter den Linden, von der Fähre nach Jersey, von knusprigen Wiener Pasteten, die wir noch warm auf der Straße aus dem Papier aßen, von der Strandpromenade in Juan-les-Pins und von San Pedro, wo wir auf der Straße getanzt haben. Ich sah, wie ihre Züge sich langsam entspannten. Ich erzählte ihr davon, wie meine Mutter einmal einen Esel an einen Bauern in einem Dorf in der Nähe von Rivoli verkaufte, und wie das Tier immer wieder zu uns zurückfand, uns fast bis nach Mailand nachlief. Und dann die Geschichte von den Blumenverkäufern in Lissabon, und wie wir diese Stadt im Kühlwagen eines Blumenhändlers verließen, der uns vier Stunden später halb erfroren im Hafen von Porto ablieferte. Sie begann zu lächeln, und schließlich lachte sie. Es gab Zeiten, da hatten meine Mutter und ich Geld, und Europa erschien uns sonnig und verheißungsvoll. Von diesen Zeiten erzählte ich Joséphine; von dem vornehmen Araber in der weißen Limousine, der meiner Mutter an dem Abend in San Remo ein Ständchen brachte, wie wir lachten und wie glücklich sie war und wie lange wir nachher von dem Geld lebten, das er uns gegeben hatte.
»Sie haben so viel erlebt«, sagte sie mit einem Unterton von Neid und Bewunderung. »Und dabei sind Sie noch so jung.«
»Ich bin fast genauso alt wie Sie.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Ich bin tausend Jahre alt.« Sie lächelte wehmütig. »Ich wäre gern eine Abenteurerin«, sagte sie. »Dann würde ich der Sonne folgen mit nichts als einem Koffer in der Hand, ohne zu wissen, wo ich am nächsten Tag sein würde …«
»Glauben Sie mir«, sagte ich sanft, »das ist mit der Zeit sehr ermüdend. Nach einer Weile sieht es überall gleich aus.«
Sie schaute mich zweifelnd
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