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Chocolat

Chocolat

Titel: Chocolat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joanne Harris
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Makel sichtbar. Einen Augenblick lang sieht er sich mit ihren Augen – schmutzig, ungehobelt. Wie in einem perversen Reflex spielt er die Rolle, die sie ihm zugedacht hat: »Was zum Teufel glotzen Sie so blöd?«
    Sie schaut ihn verblüfft an und weicht zurück. Armande grinst.
    »Wir sehen uns später«, sagt sie zu mir. »Und vielen Dank noch mal.«
    Caro folgte mir sichtlich verärgert. Hin- und hergerissen zwischen Neugier und ihrem Widerwillen, mit mir zu reden, gab sie sich schroff und herablassend. In knapper Form schilderte ich ihr, was vorgefallen war. Reynaud stand daneben und hörte zu, sein Gesicht so ausdruckslos wie das derHeiligenfiguren in seiner Kirche. Georges, um Diplomatie bemüht, lächelte verlegen, gab hin und wieder Platitüden von sich.
    Niemand bot mir an, mich nach Hause zu fahren.
    Samstag, 15. März
    Heute morgen bin ich noch einmal bei Armande Voizin gewesen, um mit ihr zu reden. Aber sie hat sich wieder geweigert, mich ins Haus zu lassen. Ihr rothaariger Wachhund öffnete die Tür, knurrte mich in seinem ungehobelten patois an und stellte sich breit in den Türrahmen, um mich am Eintreten zu hindern. Es gehe Armande gut, sagt er mir. Ein bißchen Ruhe, und sie werde sich wieder vollständig erholen. Ihr Enkel sei bei ihr, und ihre Freunde besuchen sie jeden Tag. Letzteres sagt er mir mit einem Sarkasmus, der mir das Mark in den Knochen gefrieren läßt. Armande will nicht gestört werden. Es widerstrebt mir zutiefst, diesen Mann um etwas zu bitten, mon père , aber ich kenne meine Pflicht. Egal, welche primitiven Individuen sie ihre Freunde nennt, egal, wieviel Spott und Hohn sie mir entgegenschleudert, meine Pflicht bleibt dieselbe. Zu trösten – sogar dort, wo Trost abgelehnt wird – und auf den richtigen Weg zu führen. Aber es ist unmöglich, mit diesem Mann über die Seele zu reden – seine Augen sind so ausdruckslos und gleichgültig wie die eines Tieres. Die zarte Seele, die heilige Flamme im Innern des unwürdigen Fleisches, die durch ein Leben in Sünde zerstört wird … Das ist unsere heiligste Pflicht, Vater. Die Rettung der Seele ist das einzige, worum es uns geht. Ich versuche, es ihm zu erklären. Armande ist alt, sage ich ihm. Alt und störrisch. Es bleibt nur noch so wenig Zeit. Kann er das denn nicht einsehen? Will er zusehen, wie sie sich durch ihre Arroganz und Nachlässigkeit umbringt?
    Er zuckt die Achseln.
    »Es geht ihr gut«, sagt er mit einem Blick, der voller Abscheu ist. »Niemand vernachlässigt sie. Sie wird sich wieder ganz erholen.«
    »Das stimmt nicht«, erwidere ich betont schroff. »Sie spielt Russisches Roulette mit ihren Medikamenten. Sie weigert sich, auf den Arzt zu hören. Sie ißt Schokolade , Herrgott noch mal! Haben Sie sich überhaupt schon mal überlegt, was das in ihrem Zustand bedeutet? Warum –« Sein Gesichtsausdruck ist plötzlich feindselig.
    »Sie will Sie nicht sehen.«
    »Ist Ihnen das denn gleichgültig? Macht es Ihnen nichts aus, daß sie sich mit ihrer Völlerei umbringt?«
    Er zuckt mit den Schultern. Ich spüre seinen Haß hinter der dünnen Fassade scheinbarer Gleichgültigkeit. Es ist zwecklos, an seinen guten Kern zu appellieren – er hält einfach nur Wache, so wie es ihm aufgetragen wurde. Armande hat ihm Geld angeboten, sagt Muscat. Vielleicht möchte er, daß sie stirbt. Ich kenne ihren perversen Charakter. Ihre Familie zu enterben und ihr Geld statt dessen einem dahergelaufenen Fremden zu vermachen, das würde zu ihr passen.
    »Ich warte«, sagte ich ihm. »Wenn es sein muß, den ganzen Tag.«
    Zwei Stunden lang wartete ich draußen im Garten. Dann fing es an zu regnen. Ich hatte keinen Schirm, und meine Soutane wurde immer schwerer, je mehr sie sich mit Feuchtigkeit vollsaugte. Mir war schwindelig, und ich fühlte mich benommen. Nach einer Weile wurde ein Fenster geöffnet, und der Duft nach frischem Brot und Kaffee, der aus der Küche kam, machte mich fast wahnsinnig. Ich sah, wie der Wachhund mich verächtlich betrachtete, und ich wußte, selbst wenn ich ohnmächtig zusammenbräche, würde er keinen Finger rühren, um mir zu helfen. Als ich langsam den Hügel hinaufging, spürte ich seinen Blick in meinem Rücken. Von irgendwoher jenseits des Flusses meinte ich, jemanden lachen zu hören.
    Auch bei Joséphine Muscat habe ich versagt. Obwohl sie sich weigert, zur Messe zu gehen, habe ich mehrmals mit ihr gesprochen, aber ohne Erfolg. Sie hat einen harten, widerspenstigen Kern entwickelt, eine Art Trotz,

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