Chocolat
obwohl ihr Ton immer respektvoll und sanft bleibt, wenn wir miteinander reden. Sie wagt sich nie weit weg von dem Laden, La Céleste Praline , und heute traf ich sie direkt vor der Ladentür. Sie war gerade dabei, den Gehweg zu fegen, und sie hatte ihr Haar mit einem gelben Tuch zusammengebunden. Während ich auf sie zuging, hörte ich sie leise vor sich hin singen.
»Guten Morgen, Madame Muscat«, grüßte ich sie höflich. Ich weiß, wenn ich sie zurückgewinnen will, dann nur mit Vernunft und Freundlichkeit. Später, wenn unsere Arbeit getan ist, kann sie immer noch bereuen.
Sie schenkte mir ein schmallippiges Lächeln. Sie wirkt jetzt wesentlich selbstbewußter, ihre Haltung ist aufrecht, sie trägt den Kopf hoch, wie sie es von Vianne Rocher abgeschaut hat.
»Ich heiße jetzt Joséphine Bonnet, Vater.«
»Nicht nach dem Gesetz, Madame.«
»Ach, das Gesetz.« Sie zuckte die Achseln.
» Gottes Gesetz«, sagte ich nachdrücklich und vorwurfsvoll. »Ich habe für Sie gebetet, ma fille . Ich habe um Ihre Erlösung gebetet.«
Darüber mußte sie lachen, wenn auch nicht boshaft.
»Dann sind Ihre Gebete erhört worden, Vater. Ich bin noch nie in meinem Leben so glücklich gewesen.«
Sie scheint unerreichbar. Seit einer knappen Woche steht sie unter dem Einfluß dieser Frau, und schon höre ich deren Stimme aus Joséphines Worten. Das Lachen der beiden ist unerträglich. Ihr Spott, ebenso wie Armandes, ein Stachel, der mich rasend macht. Ich spüre bereits, wie etwas in mir darauf reagiert, Vater, eine Schwäche, gegen die ich mich gefeit glaubte. Wenn ich die chocolaterie auf der anderen Seite des Platzes betrachte, das hell erleuchtete Schaufenster,die Kübel mit den rosa- und orangefarbenen und roten Geranien auf den Balkonen und links und rechts über der Tür, fühle ich, wie der Zweifel sich in mein Herz schleicht, und mein Mund füllt sich mit der Erinnerung des Dufts von Sahne und Caramel und dem berauschenden Aroma von Cognac und frisch gemahlenen Kakaobohnen. Es ist der Duft von Frauenhaar, von zartem Flaum im Nacken einer Frau, von reifen Aprikosen, von warmen brioches und Zimtschnecken, von Zitronentee und Maiglöckchen. Es ist der Duft von Räucherstäbchen, der sich im Wind entfaltet wie das Banner des Aufruhrs. Der Stachel des Teufels stinkt nicht nach Schwefel, so wie wir es als Kinder gelernt haben, sondern wie ein betörendes Parfüm, vermischt mit dem Duft von tausend Gewürzen, der einem den Kopf verdreht und die Sinne benebelt. Manchmal stehe ich vor der Kirche und halte meinen Kopf in den Wind, um einen Hauch von diesem Duft zu erhaschen. Er verfolgt mich bis in meine Träume, bis ich verschwitzt und ausgehungert aus dem Schlaf fahre. In meinen Träumen esse ich bergeweise Schokolade, wälze mich in Pralinen, und sie fühlen sich weich an wie menschliches Fleisch, wie tausend Münder auf meinem Körper, die mich mit tausend winzigen Bissen verschlingen. Unter ihrer zärtlichen Gier zu sterben ist der Gipfel der Versuchung, und in solchen Augenblicken kann ich beinahe verstehen, warum Armande Voizin mit jedem Bissen ihr Leben riskiert …
Ich sagte beinahe .
Ich kenne meine Pflicht. Ich schlafe nur noch sehr wenig, denn auch für diese Augenblicke der Zügellosigkeit habe ich mir Buße auferlegt. Meine Gelenke schmerzen, aber ich begrüße den Schmerz, der mich ablenkt. Körperliche Freuden sind die Risse, in die der Teufel seine Wurzeln schlägt. Ich hüte mich vor lieblichen Düften. Ich esse nur noch eine Mahlzeit am Tag, die nur aus den einfachsten, fast geschmacklosen Zutaten besteht. Wenn ich nicht gerade meinen Pflichten in der Gemeinde nachgehe, arbeite ich aufdem Friedhof, grabe die Beete um und jäte das Unkraut auf den Gräbern. Der Friedhof ist in den letzten beiden Jahren ziemlich vernachlässigt worden, und es schmerzt mich zu sehen, was für ein Chaos sich in dem ehemals gepflegten Garten ausgebreitet hat. Lavendel, Majoran, Goldrute und Salbei wuchern zwischen Gräsern und blauen Disteln. Außerdem irritieren mich so viele verschiedene Gerüche. Ich möchte gepflegte Beete mit ordentlichen Reihen von Blumen und Sträuchern, vielleicht eine Buchsbaumhecke um den Friedhof herum. Der üppige Pflanzenwuchs scheint mir unpassend, respektlos, ein wilder Überlebenskrieg, in dem die eine Pflanze die andere erstickt, in einem vergeblichen Kampf um die Vorherrschaft. In der Bibel steht, wir sollen uns die Erde untertan machen. Doch ich fühle mich nicht stark genug. Was ich
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