Chocolat
« Es gelang mir kaum noch, meine Verachtung zu verbergen. »Und wenn sie in einem halben Jahr stockblind ist? Was macht sie dann?«
Zum erstenmal wirkte sie verwirrt.
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, sagte sie schließlich. »Armandes Augen sind doch in Ordnung, oder? Ich meine, sie trägt ja noch nicht mal eine Brille –«
Ich sah sie durchdringend an. Sie wußte es nicht. »Sie haben sich noch nicht mit dem Arzt unterhalten, nicht wahr?«
»Warum sollte ich? Armande –«
Ich fiel ihr ins Wort. »Armande hat ein Problem«, erklärte ich ihr. »Eines, das sie systematisch ignoriert. Da sehen Sie, wie eigensinnig sie tatsächlich ist. Sie weigert sich, ihrer Familie und sogar sich selbst gegenüber einzugestehen –«
»Bitte, sagen Sie’s mir.« Ihre Augen waren hart wie Achate.
Ich sagte es ihr.
Sonntag, 16. März
Armande tat zunächst so, als verstünde sie nicht. Dann verlangte sie in einem selbstherrlichen Ton zu wissen, wer »geplappert« habe, während sie mir gleichzeitig vorwarf, ich mischte mich in Angelegenheiten ein, die mich nichts angingen, und ich hätte außerdem sowieso keine Ahnung, wovon ich sprach.
»Armande«, sagte ich, als sie schließlich eine Atempause machte. »Reden Sie mit mir. Erklären Sie mir, was es bedeutet. Diabetische Erkrankung der Netzhaut –«
Sie zuckte die Achseln. »Wenn dieser verdammte Doktor es schon im ganzen Dorf rumerzählt, kann ich’s Ihnen auch sagen.« Sie wirkte gereizt. »Er behandelt mich, als könnte ich nichts mehr für mich selbst entscheiden.« Sie sah mich durchdringend an. »Und Sie sind auch nicht besser, Madame«, sagte sie. »Bemuttern mich, mischen sich in meine Angelegenheiten ein … Ich bin kein Kind, Vianne.«
»Das weiß ich.«
»Also gut.« Sie langte nach ihrer Teetasse. Ich sah, wie vorsichtig sie sie anfaßte, sich vergewisserte, daß sie sicher zwischen ihren Fingern lag, bevor sie sie anhob. Nicht sie, sondern ich bin blind gewesen. Der Spazierstock mit der roten Schleife, die vorsichtigen Schritte, die unfertige Stickarbeit, die Augen stets durch die verschiedensten Hüte geschützt …
»Man kann mir sowieso nicht helfen«, sagte Armande etwas freundlicher. »Soweit ich es verstanden habe, ist es unheilbar, also geht es außer mir niemanden etwas an.« Sie trank einen Schluck von ihrem Tee und verzog das Gesicht.
»Kamille«, sagte sie trocken. »Soll entgiftend wirken. Schmeckt wie Katzenpisse.« Mit derselben Vorsicht stellte sie die Tasse wieder ab.
»Das Lesen fehlt mir«, sagte sie. »Ich kann die Buchstaben nicht mehr erkennen. Aber Luc liest mir manchmal was vor. Wissen Sie noch, wie er mir an dem ersten Mittwoch ein Gedicht von Rimbaud vorgelesen hat?«
Ich nickte.
»Sie sagen es so, als sei es Jahre her«, bemerkte ich.
»Ist es auch.« Ihre Stimme klang schwach, fast tonlos. »Ich habe bekommen, was ich nie zu hoffen gewagt hatte. Mein Enkel besucht mich jeden Tag. Wir reden miteinander wie Erwachsene. Er ist ein guter Junge und so liebenswürdig, daß er sich ein wenig um mich grämt.«
»Er liebt Sie, Armande«, unterbrach ich sie. »Wir alle lieben Sie.«
Sie lachte in sich hinein.
»Na ja, vielleicht nicht alle«, sagte sie. »Aber das ist nicht so wichtig. Ich habe alles, was ich mir je gewünscht habe. Mein Haus, meine Freunde, Luc …« Sie sah mich trotzig an. »Ich werde mir nichts davon wegnehmen lassen«, erklärte sie herausfordernd.
»Ich verstehe nicht recht. Es kann Sie doch niemand zwingen –«
»Ich rede nicht von irgend jemandem «, unterbrach sie mich scharf. »Cussonnet kann mir erzählen, was er will,über Retinatransplantation und Lasertechnik und was weiß ich –« Ihre Verachtung für solche Dinge war nicht zu überhören. »Aber das ändert nichts an den Tatsachen. Die Wahrheit ist, daß ich blind werde, und da ist wohl nichts dran zu machen.« Sie verschränkte die Arme, wie um die Endgültigkeit ihrer Worte zu unterstreichen.
»Ich hätte früher zu ihm gehen sollen«, sagte sie ohne Bitterkeit. »Jetzt ist es nicht mehr heilbar und wird immer schlimmer. Ein halbes Jahr gibt er mir höchstens, bis ich völlig erblindet bin, dann kommt das Sterbehaus, ob’s mir gefällt oder nicht, bis ich die Augen zumache.« Sie machte eine Pause. »Womöglich lebe ich noch zehn Jahre«, sinnierte sie, als würde sie wiederholen, was ich zu Reynaud gesagt hatte.
Ich öffnete den Mund, um sie zu beruhigen, um ihr zu sagen, daß es vielleicht nicht so schlimm werden würde,
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