Cholerabrunnen
sich einen Ruck und blättert in der Mappe nach hinten, klappt einen Plan heraus, auf dem vier Stellen mit roten Kreisen gekennzeichnet wurden. Dazu legt er die dahintergeheftete Meldung über den beschlossenen Wiederaufbau der Frauenkirche. Er schaut wieder zu Frenzel hinüber und sagt kein Wort. Der blickt nicht gerade schlau auf die beiden Bögen, fragt sich nun sicher, warum er immer noch nicht abbrach, den Mann einfach rausschmiss. Doch dann schaut er noch einmal genauer hin. Nein, Baupläne sind nicht sein Ding. Dass es sich aber um Straßenverläufe handelt und groß ‚Neumarkt’ darunter steht, erkennt selbst er.
„Denken Sie überhaupt einmal nach? Verdammt noch einmal! Wenn die Kirche wieder aufgebaut wird, müssen Sie auch die Baumaßnahmen zur Wiederherstellung des Neumarktes zulassen. Und wenn nicht… hat sich das mit der Kirche erledigt, verstanden?“
Holm Weinert grinst den Kultusminister an. Der schluckt. So ging ihn noch niemand an. Er musste bereits einiges einstecken. Natürlich, er gilt als gesundheitlich labil. Aber er kann seine Arbeit tun. Das allein zählt. Die besten Voraussetzungen für diese Position hat er auch noch. Er schüttelt nur den Kopf.
„Wie, bitteschön, wollen Sie denn die Baumaßnahmen verhindern?“
Weinert grinst noch mehr.
„Das lassen Sie nur meine Sorge sein. Ich habe schon einen Plan und wenn dort, wo man bauen will, alles Mögliche geschieht, wird sich bald niemand mehr finden, der den Kopf dafür hinhält. Da hilft Ihnen auch Ihre komische Polizei nicht, Herr Minister. Zumal der Innenminister sicher alles Mögliche, aber nicht Ihre extravagante Kirche im Kopf hat. Jetzt gerade, wenn die Treuhand eine Firma nach der anderen schließt. Der Volkszorn ist groß genug und diese Spendenaktion… na ja, wie man dazu stehen mag, will ich mir gar nicht erst überlegen. Verstanden?“
Sein Gegenüber schaut geschockt in die Runde. Noch drei weitere Personen stehen da, die Weinert mitbrachte. Der schreckt vor nichts zurück und bisher waren da nur Drohungen, die in einer Demokratie nicht als bedrohlich angesehen werden dürfen. Proteste… von etwas anderem sprach der Dicke vor ihm sicher nicht… die sind nun einmal legitim. Dass dabei auch einmal die Pferde durchgehen… na ja, alles kann passieren.
„Neumarkt, Neumarkt… na ja, ich kann mich natürlich auch dafür einsetzen. Aber seien Sie gewiss… dafür hat der Freistaat keinen Pfennig übrig. Nicht einen. Das muss ebenso über Spenden oder gar Privatinvestitionen passieren. Und die, das sage ich Ihnen auch, die werden nicht gering sein. Schließlich… wenn die Frauenkirche in ein paar Jahren wieder steht, können darum herum nicht jede Menge moderne Hütten wachsen. Wenn, dann historischer Wiederaufbau.“
Weinert zieht die Luft ein. Schnell überrechnet er alles. Na ja, einen Teil davon könnten seine Gönner schon aufbringen. Ein eigenes Quartier zu bauen, sich auch noch an einer historisch wirkenden Front zu versuchen, wird einige reizen. Schnell geht das sicher alles nicht. Wie er die Bauleute kennt, werden die sich gegenseitig behindern. Sollen die bei der Frauenkirche erst einmal enttrümmern, sich dann auf einen angemessenen Platz um die Kirche zurückziehen… und dann schlägt seine Stunde.
„Gut, dann erwarte ich einen entsprechenden Beschluss!“
Sie fallen nicht auf. Einige sind in der Stadt unterwegs und nutzen den in der Regel freien Sonntag für einen ersten Überblick beim Stand der vielen Rekonstruktions- und Bauvorhaben. Außerdem ließ das Rathaus auch noch einen sogenannten ‚verkaufsoffenen Sonntag’ zu. Somit ist viel Gedränge überall. Dazu kommen Touristen, die an den Haltestellen der verschiedenen Stadtrundfahrtangebote warten oder sich auf eigene Faust einen Überblick verschaffen wollen. Die Museen sind geöffnet und beklagen sich wohl derzeit nicht über fehlende Besucher. Trotzdem regen sich viele Dresdner auf, denn die Eintrittspreise stiegen in den letzten Monaten bereits zum dritten Male an. Niemand weiß, wo das Ende der nach oben führenden Schleife zu suchen sein wird. Wer soll sich das noch leisten? Die Touristen scheinbar schon… und auch noch gerne.
Vier Herren, denen man diesen Titel schon zuerkennen darf, stehen am Cholerabrunnen, jenem Wasserspender, den Freiherr Eugen von Gutschmid der Stadt spendete und damit seine Freude über die Verschonung der Stadt vor der schon bis unweit der Mauern vorgedrungenen Seuche 1842/43 zum Ausdruck brachte.
Rolf
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