Cholerabrunnen
einen Anruf. Gleich geht ihm diese Geschichte durch den Kopf, die Veronika Wagner erzählte. Und irgendwie ist da noch das Unverständnis, warum nun gerade solch ein Anruf etwas mit alledem zu tun haben sollte.
„Na ja, weil wir eigentlich nie Anrufe bekommen. Marcus war es gleich ganz schlecht. Der letzte… war, als sein Opa starb. Er schaffte es nicht einmal mehr, nach Hause zu kommen. Wir hatten einen wichtigen Test und er saß gerade drin. Na ja, und dann… war der Zug weg. Später machte er sich Vorwürfe und…“
Behringer hört sich gern Vieles an, doch jetzt hebt er die Hand.
„Der andere Anruf!“
Sie fährt aus den Gedanken hoch, schaut ihn an, überlegt, nickt dann und berichtet weiter.
„Ja, so ein Mann. Woher? Keine Ahnung. Marcus meinte, er kenne ihn nicht. Und der stellte Fragen nach Dingen, die ihn wahrlich nichts angingen… die mein Freund nicht einmal wusste… wissen konnte. Na ja… aber…“
Sie überlegt noch einmal.
„Vielleicht wusste er doch etwas? Er suchte dann in einem Buch herum und legte es wieder… wieder dahin, starrte dann eine Weile in sein Bierglas. Noch nie trank er vor Siebzehn Uhr Bier. Das war so ein ungeschriebenes Gesetz… kein Alkohol vor dieser Zeit. Ich hielt mich auch dran und die Studentenfeiern… na ja, ging mal eine eher los, lachte man zwar über seinen Spleen, aber man akzeptierte ihn.“
Klar. Behringer greift sich an den Kopf. Wieder so ein Mensch, den alle nur mochten und der doch auf grausame Weise den Tod fand…
„Noch einmal zu diesem Anruf… erzählte er denn später noch etwas darüber? Was es auch war… egal!“
Marlene schaut Behringer an, dann auf den Boden, überlegt, schüttelt noch einmal den Kopf.
„Nein, irgendwie gar nicht. Weiß auch nicht, warum. Aber… ich habe doch keine Ahnung… aber da war einfach nichts.“
Der Kommissar gibt auf. Nein, hier erfährt er sicher nichts.
„Hmm… wenn Ihnen noch etwas einfällt, dann melden Sie sich bitte… hier, meine Karte.“
Noch im Gehen, wobei es ihm gar nicht wohl ist, die nun auch durch seine Anwesenheit und Fragen aufgewühlte Studentin allein zu lassen, fällt ihm noch ein Punkt ein und er dreht sich noch einmal zur sich eben schließenden Tür des Studentenzimmers um.
„Haben Sie eine Ahnung, welche Bindungen Marcus Wagner gerade zu Dresden hatte? Ist ja nicht gerade sehr gewöhnlich… in diesen Tagen… das er hier studiert, oder?“
Marlene schaut zu ihm, nickt dann und schüttelt gleich wieder den Kopf, öffnet die Tür noch einmal ganz und bittet ihn einen Schritt herein. Er folgt ihrer Geste.
„Muss ja nicht jeder hören, dass Sie mich befragen. Die denken sich doch gleich alles Mögliche… na ja!“
Sie grinst und wird wieder ernst, dann übermannt sie der Schmerz erneut. Unter Schluchzen meint sie, sie hätten sich sicherlich nie kennengelernt, wäre er nicht gekommen. Und sie sei dankbar für jede Minute. Ob sie… jemals wieder einen Freund haben wird…?
Behringer versucht, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken.
„Warum Dresden, Frau Sander, warum nicht Berlin?“
Sie lässt sich auf den Hocker neben der Tür fallen und schaut ihn an.
„Er wollte nicht, dass ich es herum erzähle… aber sein Großvater stammt von hier… Zumindest sein leiblicher Großvater.“
Leiblicher… Behringer schaut sie an, als käme er aus einer ganz anderen Welt.
„Wie habe ich das denn nun zu verstehen?“
Sie versucht, zu lächeln, aber diesmal gelingt es ihr gar nicht.
„Marcus Vater wuchs bei Adoptiveltern auf, weil seine Familie… nicht mehr lebte. Und das war vielleicht auch gut so.“
Nun wundert er sich doch. Wieso? War der wirkliche Großvater, vielleicht auch dessen Frau und Marcus Großmutter, waren die Verbrecher? Das wäre… nein, kann er sich nicht vorstellen. Natürlich kennt er die derzeit zaghaft veröffentlichten Berichte von Zwangsadoptionen, wenn also Kinder von politisch nicht ins System passenden Eltern getrennt und anderen, Systemtreuen zugeordnet wurden. Das war eben so… in der DDR wie auch vorher im Dritten Reich. Nicht gut, jedoch heute leider nicht mehr zu ändern. Man sollte eher darauf achten, dass solches nie wieder geschieht.
„Leiblich… wie darf ich das verstehen?“
Marlene zieht die Augen nach oben.
„Wie gesagt, er wollte nicht, dass man darüber spricht. War eben so. Und ich glaube nicht, dass das jetzt noch eine Rolle spielt.“
Ja, sicher. Kann er sich auch nicht vorstellen, aber vielleicht…
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