Choral des Todes
Fort Rosny besteht hier kein Zweifel. Er hat unsere Abdrücke mit denen seiner eigenen Modelle verglichen. Er wird mir seine Aufnahmen schicken.«
»Ich ruf dich wieder an. Das muss ich erst verarbeiten.«
»Entspann dich, Doudouk. Eile zu deiner Familie und geh Austern essen!«
»Genau. Frohes Fest. Und danke.«
Die beiden Ermittler begriffen: Ihre Untersuchung war wie ein Wirbelsturm, und sie befanden sich mitten in dessen ›Auge‹. Sie waren fassungslos über die immer verrückteren Untersuchungsergebnisse, die auf sie einstürzten.
Kasdan wählte eine Nummer und schaltete wieder auf Freisprechen.
»Wen rufen Sie an?«
»Vernoux.«
»Vernoux ist aus dem Rennen.«
»Ich will etwas überprüfen.«
Nach sechsmaligem Läuten meldete sich der Hauptmann. Er schien nicht erfreut darüber, die Stimme des Armeniers zu hören. Der Mann hatte ein neues Kapitel aufgeschlagen. Er war gerade dabei, Weihnachtsgeschenke für seine Kinder zu kaufen.
Kasdan holte ihn wieder auf den Boden zurück:
»Würden Sie mich über die Ermittlungen im persönlichen Umfeld von Götz, Naseer und Olivier unterrichten?«
»Ich habe alles an die Mordkommission weitergeleitet.«
»Sie haben doch bestimmt die Kopien im Büro aufbewahrt, oder?«
»Ich bin momentan nicht im Büro. Und ab morgen habe ich Urlaub bis zum 3. Januar.«
»Hören Sie mir mal gut zu. Ich verstehe, dass Sie mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben wollen. Ich verstehe auch, dass Sie empört sind. Aber es gibt noch zwei Polizisten, die sich ranhalten. Volokine und ich. Könnten Sie uns ein letztes Mal helfen?«
»Wonach sucht ihr denn genau?«
»Wir haben den fast unwiderlegbaren Beweis, dass es sich um Kinder handelt. Um mordende Kinder im Alter zwischen zehn und dreizehn Jahren. In vier Tagen sind bereits drei Morde begangen worden. Zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Stadtvierteln mitten in Paris. Es kann nicht sein, dass kein Mensch etwas gesehen hat. Es muss doch zumindest eine indirekte Zeugenaussage geben, die uns ein Detail, ein Indiz liefert, das auf die Anwesenheit von Kindern am Tatort hinweist.«
Schweigen am anderen Ende der Leitung. Kasdan stellte sich den Hauptmann mit den dichten Augenbrauen vor, die Arme voller Geschenke. »Ich glaube, da war etwas«, sagte der Polizist schließlich. »Ein absurdes Detail. Einige Zeilen, denen ich keine große Aufmerksamkeit geschenkt habe, aber …« Er hielt inne. Man hörte ihn durch den Lautsprecher atmen. »Ich nehme Kontakt mit der Firma auf und rufe Sie sofort zurück.«
Kasdan legte auf. Volokine starrte die Croissant-Tüte an. Leer. Der Armenier stand auf. Öffnete einen Einbauschrank. Nahm eine Tüte mit armenischen Keksen heraus und legte sie vor den Russen. Der langte in die Tüte, stopfte sich den Mund voll und ließ dabei jede Menge Krümel zu Boden fallen.
Das Telefon klingelte. Kasdan hob sofort ab.
»Ich wusste, dass ich etwas gelesen hatte«, sagte Vernoux. »Gestern Abend hat mir der sechste Mann meines Teams, der Leute in der Nachbarschaft von Saint-Augustin befragte, von einer aberwitzigen Zeugenaussage erzählt. Ein alter Mann. Mindestens neunzig Jahre alt. Er wohnt im Monceau-Viertel, fünfhundert Meter von der Kirche Saint-Augustin entfernt.«
»Was hat er gesehen?«
»Laut dem Protokoll bereitete er bei offenem Fenster gerade sein Abendessen vor. Es war vier Uhr nachmittags – Sie sehen, was für ein Typ das ist.«
»Fahren Sie fort.«
»Er sagte, er hätte Kinder gesehen, die zu einem Kostümball gingen.«
»Was heißt das?«
»Sie trugen bayerische Trachten. Lederhosen, große Schuhe, kleine grüne Filzhüte. Der Alte hat die Tracht wiedererkannt, da er im letzten Weltkrieg drei Jahre als Fremdarbeiter auf einem bayerischen Bauernhof verbracht hat.« Vernoux lachte schallend. »Er sieht noch immer überall Deutsche!«
Kasdan fand das überhaupt nicht witzig.
»Hat er gesagt, wie viele es waren?«
»Drei oder vier. Er konnte es nicht genau sagen. Für mich ist der Alte einfach senil.«
»Wie sind sie fortgekommen?«
»In einem schwarzen Geländewagen.«
»Danke, Vernoux. Können Sie mir das Protokoll mailen?«
»Ich werde mich darum kümmern. Aber Ihnen ist ja wohl klar, dass bei uns demnächst alles dichtmacht.«
»Ich weiß. Frohe Weihnachten.«
»Viel Glück.«
Kasdan drückte auf den Knopf, um die Leitung frei zu machen. Die beiden Männer sahen sich an. Sie brauchten nicht miteinander zu sprechen, um das gleiche Bild vor ihrem geistigen
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