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Choral des Todes

Titel: Choral des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Auge vorüberziehen zu sehen. Jungen mit grünen Filzhüten, kurzen Lederhosen und deutschen Schuhen, die wie übernatürliche Wesen durch Paris geisterten. Kinder, die auf die eine oder andere Weise das Holz verwendeten, aus dem die Dornenkrone Christi hergestellt war.
    Nein, sie brauchten nicht zu sprechen, um gemeinsam zur gleichen Schlussfolgerung zu gelangen.
    Sie hatten es mit Racheengeln zu tun.
    Und diese Engel waren Nazis.

KAPITEL 40
    »Das sind keine angenehmen Erinnerungen.«
    General Philippe Condeau-Marie stand, die Hände auf dem Rücken, gegenüber dem Fenster seines Büros. Die noble Haltung des Strategen vor der Schlacht. Aber das war auch das einzig Würdevolle an ihm. Der General war ein kleiner, beleibter, kahlköpfiger Mann. Das Auffälligste an ihm war seine fahle Gesichtsfarbe. Der Sechzigjährige schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen.
    Als die beiden Partner an dem Tor der Villa von Marnes-la-Coquette klingelten, sagte man ihnen, dass sie sich umsonst bemüht hätten. Es sei der 24. Dezember, und der General habe seine Familie zu Gast. Durch die Fenster konnten sie sehen, dass auf Stühlen stehende Kinder einen Weihnachtsbaum schmückten, während eine Frau, bestimmt die Mutter der Kinder und die Tochter oder Schwiegertochter des Offiziers, den Salon mit Mistelzweigen dekorierte. Sie hätten nicht zu einem ungünstigeren Zeitpunkt auftauchen können.
    Dennoch hatte der Butler – ein untersetzter Filipino in Sweatshirt und Jeans – sie eintreten lassen und in einen Nebenraum geführt. Dann war er nach oben gegangen, um sie »Michieu« zu melden.
    Ein paar Minuten später empfing sie der General. Segeltuchhose, marineblauer Pullover mit V-Ausschnitt über weißem Polohemd, Segelschuhe Marke Dockside. Ein Outfit, das eher zum America’s Cup als zu einer Infanterieschlacht passte.
    Die Hände in den Taschen, beschied er sie gelassen:
    »Ich gebe Ihnen zehn Minuten.«
    Kasdan war wieder einmal vorgeprescht, hatte sich über den Fall ausgelassen und dabei vergessen, anzugeben, was sie eigentlich damit zu tun hatten. Als er mit seinen Ausführungen zu Ende war, hatte Condeau-Marie seine Gesprächspartner eingehend gemustert und sie mit einem Lächeln bedacht:
    »Ich erinnere mich an zwei einheimische Hilfssoldaten von uns, die im Algerienkrieg von Angehörigen der FLN gefangen genommen worden waren. Man hatte sie ausgezogen, gefoltert, freigelassen. Französische Soldaten hatten sie ihrerseits verhaftet, in der Meinung, sie seien Aufständische. Dann hatten andere Soldaten sie im Gefängnis wiedererkannt und sie für Deserteure gehalten. Bei der Urteilsverkündung schienen sie niemand mehr zu sein. Weder Algerier noch Franzosen noch Militärs noch Zivilisten noch Helden noch Deserteure.« Sein Lächeln verstärkte sich und erhellte sein fahles Gesicht. »Sie erinnern mich an jene Männer.«
    »Danke für das Kompliment.«
    »Gehen wir in mein Büro.«
    Sie waren in den ersten Stock gestiegen – breite Holztreppe, Waffen an den Wänden – und dann in einen großen Raum mit einer schrägen, mit schwarzen Balken versehenen Decke geführt worden. Condeau-Marie hatte sich vor das Fenster gestellt und erwartete keine weiteren Fragen mehr. Er wusste, was er nun tun würde. Auspacken. Zweifellos hatte er schon lange damit gerechnet, dass zwei solche armen Schlucker ihn aufsuchen würden. Zwei Abgesandte des Jüngsten Gerichts. Er nahm es nun auf sich, seine Pflicht zu erfüllen. Eine Art Sühne zu Weihnachten.
    »Es sind keine angenehmen Erinnerungen«, sagte er noch einmal.
    Dann fuhr er ohne Zögern fort:
    »Im Grunde hatten damals alle Angst vor der Ausbreitung des Kommunismus. Besser diese großmäuligen Amerikaner, die zum Mond wollten, als die Sowjets, die den ganzen Planeten zu vereinnahmen trachteten. Darum haben alle geschwiegen, als sich das chilenische Militär an die Macht putschte. Dennoch war es eine Schande. Die Amerikaner hatten das Land lahmgelegt, schmutzige Aktionen der Rechtsextremen finanziert, Allendes Regime auf jede nur mögliche Art und Weise sabotiert. Dadurch ist eine demokratisch gewählte Regierung, deren Repräsentanten bedeutende Persönlichkeiten waren, zugrunde gegangen.«
    Kasdan wunderte sich über diese Einführung. Er war weit herumgekommen und wusste, dass Militärs selten links stehen. Dann erinnerte er sich an seine eigene Ergriffenheit, als er über die kurze Geschichte der Volksregierung Chiles und ihres Präsidenten Salvador Allende gelesen hatte.

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