Choral des Todes
Cipralex. 9.30 Uhr. Er war später dran als sonst, und das beunruhigte ihn. Er hatte immer Angst, dass sich die Wirkung der Substanzen bei der kleinsten Verspätung verflüchtigen würde. Während er seine Tabletten mit einem Glas Wasser hinunterschluckte, dachte er an Volokine: Jedem seine Droge.
Als er wieder das Zimmer betrat, hatte der Russe sich bereits zwei Croissants genehmigt.
»Sie haben mir nicht geantwortet. Wie sieht der Plan für heute aus?«
»Arnaud, der Oberst. Er hat mich heute Morgen angerufen. Aber ich habe ihn nicht verstanden. Ich bin sicher, dass er etwas für uns hat.«
Während er sprach, wählte er die Nummer des Offiziers und stellte auf Freisprechen um, damit Volokine das Gespräch mithören konnte. Nach dreimaligem Klingeln meldete sich die volltönende Stimme des Oberst.
»Hier Kasdan. Hast du Neuigkeiten für mich?«
»Ja. Und was für welche. Ich habe die halbe Nacht rumrecherchiert. Ihr seid da an einer höchst brisanten Geschichte dran.«
Die beiden Ermittler wechselten einen Blick. Arnaud fuhr fort:
»Ich lasse den Geschichtsunterricht ausfallen, aber ihr müsst euch einige Daten merken. 1973 übernahm eine Militärjunta die Macht in Chile. In Argentinien war dies bereits 1966 der Fall, in Brasilien 1964 und in Paraguay 1954. Das Militär hat sich auch 1973 in Bolivien und 1971 in Uruguay an die Macht geputscht. Kurzum, diese sechs Länder beschließen, sich zusammenzutun, um weltweit Jagd auf die ›Terroristen‹ zu machen. Das heißt, ihre Gegner in den Ländern zu verfolgen, in denen sie sich versteckt halten, in Südamerika und in Europa.«
Kasdan unterbrach ihn:
»Die Operation Condor.«
»Genau. Die geheimen Abkommen zwischen den Ländern werden 1975 in Santiago unterzeichnet. Am Tisch sitzt für jeden Staat eine Delegation, die ihre besonderen Methoden der Verfolgung darlegt. Die verschiedenen Ansätze werden zusammengeführt. Es werden Schulungen und Arbeitsgruppen organisiert. Ich stelle mir vor, was im Kopf dieser uniformierten Männer vorging: Sie wollten Erfolge sehen.«
»Ich hatte dich gebeten, dich über französische Offiziere zu erkundigen …«
»Ich komme gleich darauf zu sprechen. Die Verfolgung von Linksextremen auf fremdem Territorium ist illegal. Und nicht einfach. Außerdem wollen die Diktatoren sie nicht nur ausschalten. Sie wollen sie zum Reden bringen. Das erfordert spezielle Aktionen wie Entführungen, Freiheitsberaubung, Folter. Die Militärdiktaturen sind auf solche Aufgaben nicht vorbereitet. Sie brauchen Rat. Experten. Man könnte annehmen, dass sie sich an die Vereinigten Staaten, ihren natürlichen Verbündeten, wenden. Aber erstaunlicherweise nehmen sie Kontakt mit Europa auf.
Was die Folter betrifft, bitten die Südamerikaner die Besten um Unterstützung: uns. Frankreich verfügt über aktuelle Erfahrungen auf diesem Gebiet – mit Algerien. Es gibt auch andere Gründe für diese Zusammenarbeit. Ehemalige Mitglieder der OAS , der französischen Untergrundbewegung in der Endphase des Algerienkriegs, sind vor Ort. Sie haben Zuflucht in Lateinamerika gefunden. Die ständige militärische Vertretung Frankreichs in Buenos Aires berät die argentinischen Truppen. Hinzu kommt, dass der Algerien-Veteran General Paul Aussaresses als französischer Militärattaché in Brasilien weilt. In Chile werden seit 1974 Spezialschulungen von der französischen Armee und dem französischen Verfassungsschutz durchgeführt.«
»Folterschulungen?«
»Das ist die historische Wahrheit. Vor einigen Jahren haben französische Abgeordnete eine Untersuchungskommission ins Leben rufen wollen, um diesen Skandal aufzuklären. Ihr Antrag wurde 2003 abgewiesen. Im darauffolgenden Jahr hat Dominique de Villepin, damals Außenminister, noch einmal jegliche Zusammenarbeit zwischen Frankreich und den lateinamerikanischen Diktaturen bestritten.«
»Hast du die Namen der dorthin entsendeten französischen Offiziere herausgefunden?«
»Ich habe drei Namen ausfindig gemacht. Mit Mühe. Das ist kein ruhmreiches Kapitel unserer Außenpolitik.«
Volokine griff nach seinem Notizblock.
»Ich höre.«
»Drei Obersten. Drei Algerien-Veteranen. Bei einem habe ich die Adresse ausfindig machen können: Philippe Condeau-Marie, der in den achtziger Jahren General wurde. Seit 1998 im Ruhestand. Er lebt in Marnes-la-Coquette, außerhalb von Paris.«
»Rück die Adresse heraus.«
Arnaud gab sie ihm durch und fügte hinzu:
»Hast du einen triftigen Grund, ihn zu stören?«
»Drei
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